Fall 2: Kruzifix (Sachverhalt)

29.06.12

Aus:  Übungen im Öffentlichen Recht für Anfänger  WS 2000/01 (aktualisiert SS 2012)

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Alfons und Berta sind überzeugte Atheisten und engagierte Mitglieder der "Atheistischen Union", die sich immer wieder in der Öffentlichkeit dagegen wendet, dass die Bürger ungefragt mit kirchlichen Symbolen wie Marienstatuen oder Kreuzen "überschüttet" und "schutzlos kirchlicher Ideologie ausgesetzt" werden. Ihr zwölf Jahre alter Sohn Caesar hat sich ebenfalls zu einem überzeugten Atheisten entwickelt.

Als Caesar nach einem Umzug der Familie in das Land L erstmals seine neue Schule betritt, stellt er fest, dass in allen Klassenzimmern unmittelbar im Sichtfeld der Tafeln Kruzifixe von 80 cm Gesamtlänge mit einer (60 cm langen) Darstellung des sterbenden menschlichen Körpers Christi darauf angebracht sind. Caesar fühlt sich von den Kruzifixen, deren Anblick er während des gesamten Unterrichts nicht ausweichen kann, "unter Druck gesetzt" und "bedroht". Forderungen, die Kruzifixe in den Unterrichtsräumen seiner Klasse während der Unterrichtszeit abzuhängen, bleiben vergeblich. Die Schulleitung verweist darauf, dass nach § 13 der Schulverordnung des Landes L (SchVO), die auf einer Ermächtigung im Landesschulgesetz beruht, die Schulen verpflichtet sind, jeden Unterrichtsraum an solcher Stelle mit einem solchen Kruzifix auszustatten.

Nachdem eine von ihnen eingereichte Klage in allen Instanzen erfolglos geblieben ist, erheben Alfons und Berta sowie - durch sie vertreten - Caesar gegen die Urteile Verfassungsbeschwerde vor dem BVerfG. Sie sind der Auffassung, es verstoße gegen die Glaubensfreiheit, wenn Caesar gezwungen werde, unter dem unentrinnbaren Anblick des Kreuzes zu lernen. Verletzt sei auch die Glaubensfreiheit der Eltern, die das Recht beinhalte, das eigene Kind von allen Kreuzen fernzuhalten. Die Regierung des Landes L ist indessen der Ansicht, § 13 SchVO und die Kruzifixe in den Klassenzimmern seien als Ausfluss des in Art. 135 der Landesverfassung enthaltenen Gebotes, die Schüler nach den Grundsätzen der christlichen Bekenntnisse zu unterrichten und zu erziehen, verfassungsgemäß. Mit der Anbringung von Schulkreuzen erziehe die Schule nach eben diesen Grundsätzen, ohne hierbei in theologische Fragen in einer Weise einzugreifen, die zur religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates in Widerspruch stände oder die Glaubensfreiheit Andersdenkender verletze.

Wie wird das BVerfG entscheiden?

§ 13 SchVO lautet:

"In jedem Klassenzimmer ist im Sichtfeld der Tafel ein Kruzifix von mindestens 80 cm Gesamtlänge anzubringen, das mit einer Korpusdarstellung von mindestens 60 cm Länge versehen ist. Die Sitzordnung im Unterricht ist so zu gestalten, dass das Kreuz für die Schüler jederzeit zu sehen ist. Ausnahmen sind nicht zuzulassen."

Art. 135 der Verfassung des Landes L lautet:

"Die öffentlichen Schulen sind gemeinsame Schulen für alle schulpflichtigen Kinder. In ihnen werden die Schüler nach den Grundsätzen der christlichen Bekenntnisse unterrichtet und erzogen."

Fallvariante: Wie wird das BVerfG entscheiden, wenn § 13 SchulVO lediglich anordnet, dass ein solches Kruzifix in einem von mehreren ansonsten gleich ausgestatteten Aufenthaltsräumen der Schule anzubringen ist und die Beschwerdeführer erreichen wollen, dass die Kreuze in der von Caesar besuchten Schule auch dort abgehängt werden?

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