Fall 2: Kruzifix (Besprechung)

29.06.12

Aus:  Übungen im Öffentlichen Recht für Anfänger  WS 2000/01 (aktualisiert SS 2012)

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lösungsskizze:

 

A.  Die Entscheidung des BVerfG im Ausgangsfall

[Fallvariante] [Anmerkung] [Vertiefungshinweis]

Das BVerfG wird die Entscheidungen der Gerichte aufheben und die Sache an ein zuständiges Gericht zurückverweisen (vgl. § 95 II BVerfGG) und außerdem § 13 SchVO für nichtig erklären (vgl. § 95 III 1, 2 BVerfGG), wenn die Verfassungsbeschwerde zulässig und begründet ist

I.   Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde

[Begründetheit] [Sachverhalt]

1) Beteiligtenfähigkeit der Beschwerdeführer (Art. 93 I Nr. 4a GG, § 90 I BVerfGG): (+)

· beachte: auch Caesar als Minderjähriger ist GR-Träger und als "jedermann" beteiligtenfähig.

2) Maßnahme der öffentlichen Gewalt

· hier: die Urteile der Gerichte (und zwar in diesem Fall des VG und des OVG bzw. VGH), die in Anwendung des § 13 SchVO Alfons, Berta und Caesar den begehrten Rechtsschutz versagen.[1]

3) Behauptung einer Grundrechtsverletzung (Beschwerdebefugnis)

a) Behauptung der Verletzung eines grundgesetzlich geschützten Grundrechts: (+)

· hier: der in Art. 4 I GG gewährleisteten Glaubensfreiheit (Freiheit des Glaubens und des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses)[2]. Was die Glaubensfreiheit von Alfons und Berta betrifft, lässt sich jedenfalls nicht von vornherein ausschließen, dass diese auch das Recht gewährleistet, ihr Kind von allen Glaubenssymbolen fernzuhalten, die nach ihrer Überzeugung seiner religiösen Entwicklung schaden.

b) Behauptung einer spezifischen Grundrechtsverletzung durch die Gerichtsurteile: (+)[3]

c) eigene, gegenwärtige und unmittelbare Beschwer: (+)

4) Rechtswegerschöpfung (§ 90 II 1 BVerfG): (+)

5) Wahrung von Form und Frist (§§ 23, 92, 93 BVerfG): (+) (® ist von auszugehen)

Zwischenergebnis: Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig.

II.  Begründetheit der Verfassungsbeschwerde

[Zulässigkeit] [Sachverhalt]

1) Eingriff in den Schutzbereich der Glaubensfreiheit des Caesar und seiner Eltern

[Rechtfertigung durch Schranken]

· Vorüberlegung: die zu überprüfende Maßnahme (der potentielle Eingriffsakt): 

die o.g. Gerichtsurteile, die dadurch, dass sie die staatlich angeordnete Kruzifix-Ausstattung als rechtmäßig bestätigen, Caesar die Last auferlegen, in der Schule weiterhin gegen den eigenen Willen und gegen den Willen seiner Eltern ausschließlich in Anblick eines Kruzifixes lernen zu müssen, und die zugleich seinen Eltern die Last auferlegen, dieses trotz entgegenstehender eigener religiöser Überzeugung zu dulden.

a) Einschlägigkeit des Grundrechts nach seinem persönlichen Schutzbereich: (+)

· beachte: Träger des GR aus Art. 4 I GG ist auch der minderjährige Caesar. Dabei ist es ohne Bedeutung, ob er die Altersgrenze von 14 Jahren erreicht hat, die das RelKErzG für eigenverantwortliche Entscheidungen über Bekenntniswechsel, Kirchenaustritt etc. festlegt, denn dort geht es lediglich um das Spannungsverhältnis zwischen der Glaubensfreiheit des Kindes und dem elterlichen Erziehungsrecht,[4] das aber im vorliegenden Fall wegen der übereinstimmenden Vorstellungen Caesars und seiner Eltern keine Probleme bereitet.

b) Einschlägigkeit des Grundrechts nach seinem sachlichen Schutzbereich: (+)

· Art. 4 I GG gewährleistet auch die sog. negative Glaubensfreiheit, d.h. das Recht, sich in freier Selbstbestimmung nicht zu einem Glauben zu bekennen, sich nicht an kirchlichen oder religiösen Praktiken zu beteiligen und sich von Glaubenssymbolen zu distanzieren. Dazu gehört auch die Freiheit vor vom Staat geschaffenen Zwangslagen, in denen der Bürger ohne Ausweichmöglichkeiten einer zwanghaften psychischen Beeinflussung durch religiöse Handlungen oder Symbole ausgesetzt ist.

Vgl. die Ausführugen des BVerfG in seinem zu einem ähnlichen Fall ergangenen Kruzifix-Beschluss von 1995[5]: "Art. 4 Abs. 1 GG schützt die Glaubensfreiheit. Die Entscheidung für oder gegen einen Glauben ist danach Sache des Einzelnen, nicht des Staates. Der Staat darf ihm einen Glauben oder eine Religion weder vorschreiben noch verbieten. Zur Glaubensfreiheit gehört aber nicht nur die Freiheit, einen Glauben zu haben, sondern auch die Freiheit, nach den eigenen Glaubensüberzeugungen zu leben und zu handeln ... Diese Freiheit bezieht sich ebenfalls auf die Symbole, in denen ein Glaube oder eine Religion sich darstellt. Art. 4 Abs. 1 GG überlässt es dem Einzelnen zu entscheiden, welche religiösen Symbole er anerkennt und verehrt und welche er ablehnt. Zwar hat er in einer Gesellschaft, die unterschiedlichen Glaubensüberzeugungen Raum gibt, kein Recht darauf, von fremden Glaubensbekundungen, kultischen Handlungen und religiösen Symbolen verschont zu bleiben. Davon zu unterscheiden ist aber eine vom Staat geschaffene Lage, in der der Einzelne ohne Ausweichmöglichkeiten dem Einfluss eines bestimmten Glaubens, den Handlungen, in denen dieser sich manifestiert und den Symbolen, in denen er sich darstellt, ausgesetzt ist. ... Dem trägt auch Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 136 Abs. 4 WRV dadurch Rechnung, dass er ausdrücklich verbietet, jemanden zur Teilnahme an religiösen Übungen zu zwingen."

· Im Verein mit Art. 6 II 1 GG, der den Eltern (hier: Alfons und Berta) die Pflege und Erziehung ihrer Kinder als natürliches Recht garantiert, gewährleistet Art. 4 I GG auch das Recht zur Kindeserziehung in religiöser und weltanschaulicher Hinsicht. Es ist Sache der Eltern, ihren Kindern diejenigen Überzeugungen in Glaubens- und Weltanschauungsfragen zu vermitteln, die sie für richtig halten, und dem entspricht insbes. das Recht, die Kinder von allen Glaubensüberzeugungen und -bezeugungen (und damit auch -symbolen) fernzuhalten, die ihnen falsch oder schädlich erscheinen.[6]

c) Eingriffsqualität der Maßnahme

Caesar wird aufgrund hoheitlicher, durch die angegriffenen Gerichtsurteile auch noch als rechtmäßig bestätigter und in ihrer Wirkung aufrechterhaltener Anordnung in einer staatlichen Schule während der gesamten Unterrichtszeit, d.h. mehrere Stunden täglich, dem Anblick eines Gegenstandes ausgesetzt, den er als Symbol des von ihm abgelehnten christl. Glaubens begreift. Darin liegt dann ein Eingriff in seine negative Glaubensfreiheit und in das durch die Glaubensfreiheit gewährleistete Recht seiner Eltern Alfons und Berta auf Kindeserziehung in religiöser und weltanschaulicher Hinsicht, wenn (aa) das Kruzifix in der Schule tatsächlich als spezifisches Symbol der christl. Kirche oder Religion und nicht etwa nur als Symbol allgemein in der Gesellschaft verbreiteter und akzeptierter Werte aufzufassen ist und (bb) von ihm eine erhebliche psychische Zwangswirkung auf den atheistischen Schüler Caesar ausgeht.

aa) Problem: das Kruzifix als spezifisches Symbol der christlichen Religion?

α) BVerfG: Das Kreuz ist Symbol einer bestimmten religiösen Überzeugung und nicht etwa nur Ausdruck der vom Christentum mitgeprägten abendländischen Kultur.

"Zwar sind über die Jahrhunderte zahlreiche christliche Traditionen in die allgemeinen kulturellen Grundlagen der Gesellschaft eingegangen, denen sich auch Gegner des Christentums und Kritiker seines historischen Erbes nicht entziehen können. Von diesen müssen aber die spezifischen Glaubensinhalte der christlichen Religion oder gar einer bestimmten christlichen Konfession einschließlich ihrer rituellen Vergegenwärtigung und symbolischen Darstellung unterschieden werden. Ein staatliches Bekenntnis zu diesen Glaubensinhalten, dem auch Dritte bei Kontakten mit dem Staat ausgesetzt werden, berührt die Religionsfreiheit. ...

Das Kreuz gehört nach wie vor zu den spezifischen Glaubenssymbolen des Christentums. Es ist geradezu sein Glaubenssymbol schlechthin. Es versinnbildlicht die im Opfertod Christi vollzogene Erlösung des Menschen von der Erbschuld, zugleich aber auch den Sieg Christi über Satan und Tod und seine Herrschaft über die Welt, Leiden und Triumpf in einem."[7]

β) Richter SEIDL, SÖLLNER, HAAS in ihrer abweichenden Meinung: Das Kreuz im Klassenzimmer steht als Sinnbild für die allg. christlich-abendländischen Werte u. Normen.

"Es mag sein, dass in einem Schüler christlichen Glaubens beim Anblick des Kreuzes im Klassenzimmer teilweise diejenigen Vorstellungen erweckt werden, die von der Senatsmehrheit als Sinngehalt des Kreuzes ... geschildert werden. Für den nichtgläubigen Schüler hingegen kann das nicht angenommen werden. Aus seiner Sicht kann das Kreuz im Klassenzimmer nicht die Bedeutung eines Symbols für christliche Glaubensinhalte haben, sondern nur die eines Sinnbilds für die Zielsetzung der christlichen Gemeinschaftsschule [nach Art. 135 LVerf], nämlich für die Vermittlung der Werte der christlich geprägten abendländischen Kultur, und daneben noch die eines Symbols einer von ihm nicht geteilten, abgelehnten und vielleicht bekämpften religiösen Überzeugung..."[8]

γ) Stellungnahme: Dem BVerfG ist zuzustimmen. Das Kreuz steht für den vom BVerfG genannten spezifischen religiösen und nicht für einen abstrakt wertebezogenen Inhalt. Nach christlichem Selbstverständnis symbolisiert es die tiefe religiöse Überzeugung von der Erlösung der Menschen durch Opfertod und Auferstehung Christi, und seine Zweckentfremdung als Symbol für allgemeine, von diesem religiösen Bezug abgekoppelte gesellschaftliche Werte muss die Glaubensgefühle eines überzeugten Christen sogar verletzen. Dies gilt besonders für das mit der Darstellung des sterbenden Christus versehene Kruzifix. Die Werte unseres heutigen Verfassungsstaates, die in der Schule zu vermitteln sind (wie etwa Menschenwürde, Grundrechte, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit), sind ideengeschichtlich von christl. Denkweisen mitgeprägt worden aber nicht identisch mit den Werten des christl. Glaubens und teilweise sogar erst im Zusammenhang mit dem Kampf für einen säkularen und religiös neutralen Staat gegen den Einfluss der christlichen Kirchen durchgesetzt worden. Im Übrigen widerlegen sich die Richter Seidl, Söllner und Haas in ihrer abw. Meinung selbst, denn der selbe Gegenstand im selben Unterrichtsraum kann nicht für die einzelnen Schüler unterschiedlichen Symbolgehalt haben. - Heute, 17 Jahre nach dem Kruzifix-Beschluss, in einer noch pluralisti¬scheren Gesellschaft, würde wohl kaum noch jemand behaupten, dass das Kruzifix allgemein für die Werte der abendländischen Kultur stehe.

bb) Problem: erhebliche psychische Zwangswirkung durch das allgegenwärtige Kruzifix?

Auch wenn es sich bei den Schulkreuzen um Glaubenssymbole handelt, ist der Schutzbereich der negativen Glaubensfreiheit jedenfalls nur dann berührt, wenn die psychische Einwirkung, die von ihnen ausgeht, nicht von vornherein vernachlässigbar und daher unerheblich ist. Nicht jedes in einer Schule aufgehängte Kreuz greift in die negative Glaubensfreiheit ein, sondern nur ein solches, das so gestaltet und an einer solchen Stelle angebracht ist, dass es psychischen Zwang entfaltet. Hier ist zu berücksichtigen, dass in den Unterrichtsräumen nicht herkömmliche Kreuze, sondern Kruzifixe hängen, die schon aufgrund der naturgetreuen Darstellung des sterbenden Christus besonders eindrucksvoll sind und außerdem die beachtliche Größe von mindestens 80 cm Gesamtlänge aufweisen. Caesar kann sich ihrem Anblick nicht entziehen, denn sie sind im Sichtfeld der Tafel angebracht und der Unterricht ist nach § 13 S. 2 SchVO so zu gestalten, dass die Schüler das Kreuz jederzeit sehen können. Aufgrund der eindeutigen Regelung in § 13 S. 3 SchVO können für Caesar auch keine Ausnahmen gemacht werden. Anders als etwa bei Kruzifixen auf öffentlichen Plätzen oder Straßen kann sich Caesar dem Anblick auch nicht etwa durch Fortgang entziehen, denn die gesetzliche Schulpflicht verpflichtet ihn - selbst gegen den Willen seiner erziehungsberechtigten Eltern - zum Verbleib im Unterrichtsraum.[9] Er ist also der erzieherischen Appell-Wirkung der staatlich angeordneten Schulkruzifixe und der von ihnen symbolisierten Botschaft unmittelbar und dauerhaft ausgesetzt. Diese Art von psychischer Zwangswirkung ist von erheblicher Intensität und keineswegs vernachlässigbar, was sich nicht zuletzt daran verdeutlicht, dass Caesar sich "unter Druck gesetzt" und "bedroht" fühlt.

· Vgl. zur erzieherischen Appell-Funktion des Schulkreuzes das BVerfG: "Das Schulgeschehen ist darauf angelegt, ihre Persönlichkeitsentwicklung umfassend zu fördern und insbesondere auch das Sozialverhalten zu beeinflussen. In diesem Zusammenhang gewinnt das Kreuz im Klassenzimmer seine Bedeutung. Es hat appellativen Charakter und weist die von ihm symbolisierten Glaubensinhalte als vorbildhaft und befolgungswürdig aus. Das geschieht überdies gegenüber Personen, die aufgrund ihrer Jugend in ihren Anschauungen noch nicht gefestigt sind, Kritikvermögen und Ausbildung eigener Standpunkte erst erlernen sollen und daher einer mentalen Beeinflussung besonders leicht zugänglich sind..."[10]

 · A.A. die Richter Seidl, Söllner und Haas: "Das bloße Vorhandensein eines Kreuzes im Klassenzimmer zwingt die Schüler nicht zu besonderen Verhaltensweisen und macht die Schule nicht zu einer missionarischen Veranstaltung."[11]

Damit bleibt als Ergebnis festzuhalten, dass dem staatlich angeordneten Kruzifix und damit ebenso den Gerichtsurteilen, die diese Anordnung als rechtmäßig bestätigen, auch Eingriffsqualität zukommt.

Ein Eingriff in den Schutzbereich der Glaubensfreiheit des Caesar und seiner Eltern ist gegeben.

2) Rechtswidrigkeit dieses Eingriffs (Fehlen einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung durch Grundrechts-Schranken)

[Eingriff in den Schutzbereich] [Sachverhalt]

Der Eingriff in die Glaubensfreiheit des Caesar und seiner Eltern ist rechtswidrig, wenn er nicht durch Schranken des Grundrechts gerechtfertigt wird. Damit stellt sich das Problem der verfassungsrecht­lichen Schranken der Glaubensfreiheit. [s.u. zur → Rechtfertigung nach den ermittelten Schranken]

a)  Zulässigkeit des Eingriffs aufgrund von in der Grundrechtsgewährleistung selbst enthaltenen Schranken[12]: (-)

· da Art. 4 I keine solchen Schranken enthält.

b)  Zulässigkeit des Eingriffs aufgrund eines Gesetzesvorbehaltes : (-)

· da Art. 4 I GG keinen Vorbehalt der Regelung oder Beschränkung durch ein Gesetz enthält.

c)  Zulässigkeit des Eingriffs aufgrund eines als spezifische Schrankenklausel verstandenen Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 I WRV

Der Eingriff in die Glaubensfreiheit könnte dadurch verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein, dass nach der Regelung in Art. 136 I WRV, die gemäß Art. 140 GG als Bestandteil des Grundgesetzes weiterhin Geltung hat, die bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten durch die Ausübung der Religionsfreiheit weder bedingt noch beschränkt werden. Dann müsste in Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 I WRV eine Schranke speziell für die in Art. 4 GG geschützte Glaubensfreiheit zu sehen sein. Dies wird von einem Teil der Literatur mit Hinweis auf das im Grundgesetz verfolgte Prinzip der Schrankenspezialität und darauf, das Art. 136 I WRV aufgrund der ausdrücklichen Regelung in Art. 140 GG vollgültiges Verfassungsrecht ist, bejaht.[13] Der Argumentation des BVerfG folgend kann dieser Ansicht jedoch nicht zugestimmt werden, denn das Grundgesetz hat die Glaubens- (wie die Gewissensfreiheit) aus dem Zusammenhang der Kirchenartikel der Weimarer Reichsverfassung gelöst und ohne jeden Gesetzesvorbehalt in den an der Spitze der Verfassung stehenden Katalog unmittelbar verbindlicher Grundrechte aufgenommen. Art. 136 WRV ist deshalb im Lichte der gegenüber früher (vgl. den damaligen Art. 135 WRV) erheblich verstärkten Tragweite des Grundrechts der Glaubensfreiheit auszulegen; er wird nach Bedeutung und innerem Gewicht im Zusammenhang der grundgesetzlichen Ordnung von Art. 4 I GG überlagert.[14]

d)  Zulässigkeit des Eingriffs aufgrund immanenter Grundrechts-Schranken

Der Eingriff in die Glaubensfreiheit könnte hier jedoch aufgrund der sog. immanenten Grundrechts-Schranken verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein. Auch Grundrechte, die ihrem Wortlaut nach "schrankenlos" gewährleistet sind, müssen letztlich Schranken unterliegen, denn der durch Grundrechte verschaffte Freiraum kann ‑ schon angesichts der Rechte anderer - nicht grenzenlos sein.[15] Fraglich ist jedoch, unter welchen Voraussetzungen danach ein Eingriff zulässig ist und ob diese Voraussetzungen im vorliegenden Fall erfüllt sind.

aa) Die anzuwendenden Kriterien

Nach welchen Kriterien sich die Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen durch immanente Grundrechts-Schranken bemisst, ist umstritten:

α)  Anwendung der Schrankentrias?

Nach einer in der Literatur vertretenen Auffassung[16] ist auf die Schrankentrias des Art. 2 I GG zurückgreifen, Art. 2 I GG also gegebenenfalls analog anzuwenden. Gegen diese Ansicht spricht jedoch, dass die Schrankentrias letztlich weitgehende Grundrechtsbeschränkungen zulässt, während der Verfassunggeber doch diejenigen Grundrechte, die er nicht ausdrücklich mit einem Vorbehalt versah, gerade in besonderem Maße vor solchen Eingriffen sichern wollte.

β)  Übertragung der Schranke der "allgemeinen Gesetze"?

Nach anderer Ansicht sollen die ihrem Wortlaut nach schrankenlos gewährleisteten Grundrechte ihre Schranken in den "allgemeinen Gesetzen" finden, also die in Art. 5 II GG für die Kommunikationsfreiheiten vorgesehene Schranke übertragen werden.[17] Auch diese Auffassung ist abzulehnen, denn im Grundgesetz wurde die Schranke der "allgemeinen Gesetze" schließlich nur für die Kommunikationsfreiheiten konzipiert, und im Übrigen ließe dieses Kriterium keine präzise Grenzenziehung erwarten.[18]

γ)  Restriktive Schutzbereichsbestimmung?

Schließlich wäre denkbar, bereits die Schutzbereiche der vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechte so eng zu interpretieren, dass es keiner Schranken mehr bedarf (kollidierendes Verfassungsrecht als Schutzbereichsbegrenzung). Gegen diese Lösung spricht jedoch, dass sie zu willkürlichen Begriffsbildungen führen und so Unsicherheit in die Grundrechtsdogmatik bringen könnte, und dass sie die strengen Anforderungen an die Argumentation zur Begründung von Schranken umgehen würde.[19] Die Schutzbereiche der Grundrechte werden durch den Grundgesetztext vorgegeben und lassen sich nicht im Widerspruch zu dessen Wortlaut "interpretatorisch" verengen.[20]

δ)   Abwägung bei Kollision mit Grundrechten Dritter oder mit anderen Werten von Verfassungsrang

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts[21] macht die im Grundgesetz vorausgesetzte Gemeinschaftsbindung des Individuums auch diejenigen Grundrechte, die dem Wortlaut nach "schrankenlos" gewährleistet werden, gewissen äußersten Grenzziehungen zugänglich und ist ein Konflikt mit anderen Grundrechten oder sonstigen Werten von Verfassungsrang nach Maßgabe der grundgesetzlichen Wertordnung und unter Berücksichtigung der Einheit dieses grundlegenden Wertsystems zu lösen. Ein Eingriff in den Schutzbereich eines vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechtes ist danach dann zulässig, wenn die geschützte Freiheit in den konkret betroffenen Fallkonstellationen mit einem anderen Grundrecht oder einem sonstigen Werte von Verfassungsrang kollidiert und eine sorgfältige Abwägung unter Berücksichtigung der Bedeutung aller betroffenen Verfassungswerte im Wertsystem des Grundgesetzes die Nachrangigkeit des eingeschränkten Grundrechtes ergibt. Im Übrigen unterliegen solche Eingriffe dem Grundsatz des Gesetzesvorbehaltes, dürfen also nur durch oder aufgrund eines Gesetzes erfolgen.[22]

Diese Lösung ist vorzuziehen, denn sie vermeidet Grundrechtsbeeinträchtigungen, die dogmatisch nicht mehr zu rechtfertigen wären, indem sie Einschränkungen eben nur zugunsten von Verfassungswerten zulässt und zudem einen komplexen und nachvollzieh­baren Abwägungsvorgang voraussetzt, der ein Höchstmaß an sachlicher Argumentation und eine hinreichende Würdigung auch der Bedeutung des einzuschränkenden Grundrechts garantieren soll. Um der Gefahr einer schleichenden Aushöhlung der vorbehaltslos garantierten Grundrechte entgegenzuwirken, bedarf es allerdings einer Relativierung dahingehend, dass an die Annahme eines sonstigen (nicht in den Grundrechten Dritter liegenden) Wertes von Verfassungsrang hohe Anforderungen zu stellen sind; keinesfalls darf allein aus der beiläufigen Erwähnung eines Rechtsgutes an irgendeiner Stelle im Grundgesetzwortlaut auf einen Wert von Verfassungsrang geschlossen werden.[23]

Damit bleibt hinsichtlich der anzuwendenden Kriterien immanenter Grundrechts-Schranken festzuhalten: ein Eingriff in ein dem Wortlaut nach "schrankenlos" gewährleistetes Grundrecht (hier: in das Grundrecht des Caesar und seiner Eltern aus Art. 4 I GG) ist nur durch oder aufgrund eines Gesetzes und nur dann zulässig, wenn die geschützte Freiheit (hier: die Glaubensfreiheit) im konkreten Fall mit Grundrechten Dritter oder sonstigen - nach restriktiven Kriterien zu ermittelnden - Werten von Verfassungsrang kollidiert und sich im Rahmen einer Abwägung die Nachrangigkeit des eingeschränkten Grundrechtes (hier also der Glaubensfreiheit) ergibt.

b) Verfassungsrechtliche Rechtfertigung des Grundrechtseingriffs nach diesen Kriterien

[Die einschlägigen Schranken]

α) Gesetzliche Grundlage für den Eingriff: (+)

· das Landesschulgesetz des Landes L, auf das die Regelung in § 13 SchVO, die das Anbringen der Kruzifixe vorschreibt, gestützt ist

β) Vorliegen einer Kollisionslage

(1)  Kollision der (negativen) Glaubensfreiheit der Beschwerdeführer mit dem staatlichen Erziehungsauftrag (Art. 7 I GG): (+)

· beachte: Aus der Garantie der staatlichen Schulhoheit in Art. 7 I GG folgt für den Staat nicht nur die Aufgabe der Schulaufsicht, sondern auch das Recht, das gesamte Schulwesen zu organisieren und selbst Schulen zu errichten sowie ein Erziehungsauftrag, kraft dessen der Staat neben den Ausbildungsgängen und dem Unterrichtsstoff auch die Erziehungsziele (und -methoden) festlegen darf.[24]

(2)  Problem: Kollision der (negativen) Glaubensfreiheit der Beschwerdeführer mit der (positiven) Glaubensfreiheit christlicher Mitschüler und deren Eltern?

Die neg. Glaubensfreiheit des Caesar und seiner Eltern könnte hier außerdem mit der positiven Glaubensfreiheit derjenigen Mitschüler und Eltern kollidieren, die aufgrund ihrer eigenen religiösen Überzeugung ein Kruzifix im Unterrichtsraum wünschen.

(a) Das BVerfG hat in seinem Kruzifix-Beschluss[25] eine Rechtfertigung staatl. angeordneter Schulkreuze aus der positiven Glaubensfreiheit der christl. Mitschüler und ihrer Eltern verneint. Seine Argumentation lässt allerdings offen, ob es schon die Kollisionslage oder erst die Nachrangigkeit der eingeschränkten (neg.) Glaubensfreiheit verneinen will. So führt das BVerfG einerseits aus, die (pos.) Glaubensfreiheit verleihe den gläubigen Grundrechtsträgern keinen uneingeschränkten Anspruch darauf, ihre Glaubensüberzeugung im Rahmen staatlicher Institutionen zu betätigen. Andererseits betont es, die Schule dürfe im Einklang mit der Verfassung Raum für religiöse Betätigung lassen, doch müsse diese vom Prinzip der Freiwilligkeit geprägt sein und Andersdenkenden zumutbare, nicht diskriminierende Ausweichmöglichkeiten lassen. Es sei mit dem Gebot praktischer Konkordanz nicht vereinbar, ihre Empfindungen völlig zurückzudrängen, nur damit die christl. Mitschüler über den Religionsunterricht und freiwillige Andachten hinaus auch in den profanen Fächern unter dem Symbol ihres Glaubens lernen könnten.

(b) Die Richter SEIDL, SÖLLNER und HAAS gehen in ihrer abweichenden Meinung[26] offensichtlich von einer Kollisionslage aus. Sie machen geltend, die negative Glaubensfreiheit sei kein Obergrundrecht, das die positiven Äußerungen der Glaubensfreiheit im Falle des Zusammentreffens verdränge. Das Recht der Glaubensfreiheit sei kein Recht zur Verhinderung von Religion, der notwendige Ausgleich zwischen seinen beiden Erscheinungsformen müsse im Wege der Toleranz bewerkstelligt werden.

(c) Die Annahme einer Kollisionslage setzt indessen voraus, dass die positive Glaubensfreiheit der gläubigen Schüler und Eltern überhaupt berührt ist, ein Verzicht auf das amtl. Schulkreuz also einen Eingriff in dieses Recht bedeuten würde. Davon kann aber nicht die Rede sein, denn das Grundrecht der Glaubensfreiheit, ein klassisches Abwehrrecht, gewährleistet nur, dass der Gläubige selbst seine Glaubenssymbole frei tragen darf, gibt ihm aber keinen Anspruch gegen Hoheitsträger, die Räumlichkeiten ihrer Einrichtungen amtlicherseits mit bestimmten Glaubenssymbolen auszustatten. Dies wurde in der teilweise hitzigen Debatte über den Kruzifix-Beschluss des BVerfG von den Kritikern gern "übersehen". Die gläubigen Schüler und Eltern können selbst dann, wenn keine GRe Dritter entgegenstehen, nicht verlangen, dass der Staat in seinen Schulen die Symbole ihres Glaubens anbringt. Verzichtet er auf religiöse Symbole in den Unterrichtsräumen, so liegt darin nicht die Verhinderung von Religion, sondern die Verhinderung staatlicher Parteinahme für eine bestimmte Religion. Der notwendige Ausgleich zwischen der neg. Glaubensfreiheit der einen und der pos. Glaubensfreiheit der anderen im Wege der Toleranz[27] wird dadurch gewährleistet, dass jedem Schüler das Recht garantiert ist, während des Unterrichts selbst ein Kreuz als Symbol seines persönl. Glaubens bei sich zu führen, vor sich aufzustellen oder gegebenenfalls auch in einer Weise im Klassenzimmer anzubringen, die nicht den Eindruck erweckt, der Staat identifiziere sich damit. lässt sich also aus der pos. Glaubensfreiheit der gläubigen Schüler und Eltern kein Recht auf ein amtlich aufgehängtes Kruzifix ableiten, so kann sie auch nicht zur Rechtfertigung des Eingriffs in die neg. Glaubensfreiheit des Caesar und seiner Eltern herangezogen werden.

γ) Nachrangigkeit des eingeschränkten Grundrechts (Problem: Nachrangigkeit der negativen Glaubensfreiheit des Caesar und seiner Eltern gegenüber dem staatlichen Erziehungsauftrag?)

(1)  Nach der Rspr. des BVerfG[28] lässt sich aus dem staatl. Erziehungsauftrag gegenüber der neg. Glaubensfreiheit Nichtgläubiger die Rechtfertigung ableiten, auf religiös-weltansch. Bezüge nicht völlig zu verzichten. Die auf das Christentum zurückzuführenden Werte, Normen, Denktraditionen und Verhaltensmuster dürfen in Anerkennung seiner Funktion als prägender Kultur- und Bildungfaktor unter Wahrung der religiös-weltanschaulichen Neutralität vermittelt werden.[29] Der Staat darf seine Schulen sogar als christliche Gemeinschaftsschulen ausgestalten, wie sie in Art. 135 LVerf vorgesehen sind; allerdings ist eine solche Bestimmung nur bei verfassungskonformer Auslegung mit dem Grundgesetz vereinbar, d.h. darf insbes. nicht als Vorwand für eine Propagierung des christl. Glaubens oder seiner Glaubensinhalte in der staatl. Schule herangezogen werden. Die Konfrontation nicht- oder andersgläubiger Schüler mit einem christl. geprägten Weltbild führt nur so lange nicht zu einer unzulässigen Diskriminierung nichtchristl. Weltanschauungen, als es nicht um Glaubensvermittlung, sondern um das Streben nach Verwirklichung der autonomen Persönlichkeit im religiös-weltansch. Bereich gemäß der Grundentscheidung des Art. 4 GG geht.[30]

Religiös-weltansch. Zwänge sind, wie das BVerfG betont,[31] so weit wie möglich auszuschalten. Das staatl. angeordnete Anbringen von christl. Symbolen wie Kreuzen in den Klassenzimmern überschreitet die der religiös-weltansch. Ausrichtung der Schule gezogenen Grenzen.

(2)  Nach Ansicht der Richter SEIDL, SÖLLNER und HAAS[32] fällt hingegen auch die Anordnung von Schulkreuzen noch in den Gestaltungsspielraum, den das GG den in Schulfragen ausschließlich zuständigen Ländern (d.h. den Landesgesetzgeben bzw. den von ihnen ermächtigten Landesverordnunggebern) lässt. Wenn die Landesverfassung eine christliche Gemeinschaftsschule vorsehe, dürfe es dem Land nicht verwehrt sein, die Wertvorstellungen, die jenen Schultyp prägen, in den Unterrichtsräumen durch das Kreuz zu symbolisieren. Die Richter betonen, die verfassungsrechtl. Beurteilung dieser Fragen müsse von den Gegebenheiten in dem betr. Land ausgehen und dürfe nicht die Verhältnisse in anderen Ländern der Bundesrepublik zum Ausgangspunkt nehmen.

(3)  Dem BVerfG ist zuzustimmen. Der Staat hat Neutralität auch dann zu wahren, wenn er Bezüge zum Christentum herstellt. Diese Neutralität schließt es aus, dass der Staat die Verbreitung bestimmter religiöser Ideen (oder gar bestimmte religiös-weltansch. Organisationen) fördert.[33] Der Staat gibt seine Neutralität letztlich auf, wenn er dem Bürger in seinen Schulen permanent und unausweichlich spezifisch religiöse Glaubenssymbole wie das Kreuz entgegenhält. Der staatlichen Erziehungsauftrag besteht von vornherein nur in den Grenzen, die der Ausübung staatlicher Gewalt durch das GG und damit gerade auch durch das GR der Glaubensfreiheit und die Verpflichtung zur religiös-weltansch. Neutralität gesetzt werden. Er kann also ein solches Vorgehen nicht rechtfertigen. Ebenso kann auch das Gebot der Toleranz nicht zur Rechtfertigung neutralitätsüberschreitenden staatlichen Verhaltens herangezogen werden.[34]- Schließlich verkennt die Gegenauffassung die Bedeutung, die den in der Bundesverfassung gewährleisteten Grundrechten für die bundesstaatliche Ordnung zukommt: Schutzbereich und Schranken dieser GRe, die Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung in allen Ländern gleichermaßen als unmittelbares Recht binden (vgl. Art. 1 III GG), bestimmen sich ausschließlich nach den Vorgaben im GG und damit für alle Länder gleich. Das bedeutet, dass im Rahmen der Prüfung immanenter Grundrechts-Schranken nur grundgesetzliche (bundesrechtliche) Verfassungswerte Berücksichtigung finden und die Bestimmungen der einzelnen Landesverfassungen (wie hier Art. 135 LVerf) unbeachtet bleiben (es sei denn, aus dem Grundgesetz selbst ergibt sich ausdrücklich ein anderes)[35]; schließlich unterliegt auch das Landesverfassungsrecht der Regel "Bundesrecht bricht Landesrecht" (Art. 31 GG). Wenn diese Prüfung zu dem Ergebnis führt, dass ein Grundrechtseingriff verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt ist, so gilt dies ausnahmslos für alle Länder, also auch für das Land L. Dadurch möglicherweise ausgelöste Unitarisierungserscheinungen sind für einen Bundesstaat mit bundesverfassungsrechtlicher Grundrechtsordnung nichts Ungewöhnliches.

Der Eingriff in die negative Glaubensfreiheit ist also nicht durch die hier einschlägigen immanenten Grundrechts-Schranken verfassungsrechtlich gerechtfertigt.

Alfons, Berta und Caesar sind in ihren Grundrechten aus Art. 4 I GG bzw. aus Art. 4 I i.V.m. 6 II 1 GG verletzt. Ihre Verfassungsbeschwerde ist auch begründet.

Das BVerfG wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs aufheben, die Sache an ein zuständiges Gericht zurückverweisen und die Vorschrift des § 13 der Schulverordnung für nichtig erklären.

 

B.  Die Entscheidung des BVerfG in der Fallvariante

[Ausgangsfall] [Anmerkung] [Vertiefungshinweis] [Sachverhalt]

Das BVerfG wird die Verfassungsbeschwerde als unbegründet zurückweisen, denn Alfons, Berta und Caesar sind nicht in ihren GRen verletzt. Der sachliche Schutzbereich ihrer neg. Glaubensfreiheit ist nicht berührt, wenn der Staat in seinen Schulen in einem von mehreren Aufenthaltsräumen ein Kruzifix anbringen lässt. Eine Identifikation des Staates mit dem christl. Glauben lässt sich hier nicht ausmachen: Der Staat hält lediglich der großen Mehrheit seiner Schüler, die diesem Glauben anhängt, in Achtung ihrer religiös-weltansch. Selbstbestimmung das Symbol ihres Glaubens in "ihrem" Aufenthaltsraum bereit, respektiert aber zuleich die Selbstbestimmung der anderen, indem er ihnen einen gleich ausgestatteten Aufenthaltsraum zur Verfügung stellt. Außerdem fehlt es hier an einer psychischen Zwangswirkung auf nicht- oder andersgläubige Schüler wie Caesar, denn diese können sich dem Anblick des Kreuzes jederzeit durch Wechsel des Aufenthaltsortes entziehen.

 

Anmerkung:

[Ausgangsfall] [Fallvariante] [Vertiefungshinweis] [Sachverhalt]

Dieser Fall ist angelehnt an den Fall, der dem Kruzifix-Beschluss des BVerfG zugrunde lag (BVerfGE 93, 1 = EuGRZ 1995, 359 = NJW 1995, 2477 = JZ 1995, 942 = www.servat.unibe.ch/dfr/bv093001.html. Um die Problemstellung deutlicher aufzuzeigen, wurde der Sachverhalt allerdings in einigen Details "verschärft". Die vom BVerfG für nichtig erklärte Regelung in § 13 I 3 der bayerischen Volksschulordnung lautete lediglich: "In jedem Klassenzimmer ist ein Kreuz anzubringen." - Zum Kruzifix-Beschluss siehe auch Neumann, ZRP 1995, 381; Czermak, NJW 1995, 3348; Link, NJW 1995, 3353; Flume, NJW 1995, 2904; Höffe, JZ 1996, 83 (84 f.); Isensee, ZRP 1996, 10; Hagen, NJW 1996, 440; Heckel, DVBl. 1996, 453; Rux, Der Staat 35 (1996), 523; Schmitz, ERPL/ REDP 8 (1996), 1263 (1280 ff.); Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 6. Aufl. 2010, Art. 4 Rdnr. 28 f.; ein anderer Übungsfall findet sich bei Kremser, NdsVwBl. 1996, 219, 263. Zu den politischen Angriffen, denen das BVerfG in Folge des Kruzifix-Beschlusses ausgesetzt war, siehe neben Neumann, a.a.O. auch Zuck, NJW 1995, 2903; Lamprecht, NJW 1996, 971; Renck, ZRP 1996, 16; ders., ZRP 1996, 205; Czermak, ZRP 1996, 201 und Stolleis, KritV 2000, 376.

In Bayern ist die Frage des Schulkreuzes mittlerweile in Art. 7 III des Bayerischen Gesetzes über das Erziehungs- und Unterrichtswesen (BayEUG) gesetzlich geregelt. Dabei wird grundsätzlich am amtlichen Schulkreuz festgehalten. Bei Widerspruch von Erziehungsberechtigten hat der Schulleiter zunächst eine gütliche Einigung zu versuchen und sonst eine Entscheidung für den Einzelfall zu treffen, bei welcher der Wille der Mehrheit der in der Klasse Betroffenen soweit möglich zu berücksichtigen aber die Glaubensfreiheit des Widersprechenden zu achten ist. Diese Vorschrift lässt sich unproblematisch verfassungskonform auslegen.

Mittlerweile hat das Kruzifix in italienischen Klassenzimmern auch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte beschäftigt. Eine Kammer des EGMR sah in einer Aufsehen erregenden Entscheidung von 2009[36] Art. 9 EMRK verletzt. Die Große Kammer hat diese Bewertung aber in einer Entscheidung von 2011[37] korrigiert.

Vertiefungshinweis:

Zur Problematik der Schranken der Glaubensfreiheit siehe Pieroth/Schlink, a.a.O., Rdnr. 576 ff.; Kloepfer, a.a.O., § 60 Rdnr. 56 f.; zum Verhältnis von positiver und negativer Glaubensfreiheit Renck, NVwZ 1994, 544 und zum Verhältnis von Glaubensfreiheit und schulischen Bildungszielen im Lande Bayern Pawlowski, NJW 1989, 2240. Siehe außerdem zu diesem Grundrecht Frenz, JA 2009, 493; Neureither, JuS 2006, 1067 und 2007, 20; Tillmanns, Jura 2004, 619; Bumke/Voßkuhle, Casebook Verfassungsrecht, 5. Aufl. 2008, S. 108 ff. Eine Übersicht über aktuelle Probleme bietet Hufen, a.a.O., § 22 Rdnr. 43 ff. Siehe aus der neueren Verfassungsrechtsrechtsprechung insbes. BVerfGE 104, 337 (Schächten); BVerfGE 105, 279 (Warnung vor Jugendsekten) und 108, 282 (Kopftuchverbot für Lehrerinnen).

 

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[1] Denkbar ist auch eine Verfassungsbeschwerde unmittelbar gegen das Anbringen der Kruzifixe selbst. Doch auch die Gerichtsentscheidungen, die den begehrten Rechtsschutz dagegen versagen, verletzen ggf. die Grundrechte, vgl. z.B. BVerfGE 93, 1 (Kruzifix-Beschluss).

[2] Zur umstrittenen Frage, ob Art. 4 I GG neben der Glaubensfreiheit ein eigenständiges GR der Gewissensfreiheit enthält oder ob es sich um ein einheitliches GR der Glaubens- und Gewissensfreiheit handelt (so die bisher. Rechtsprechungspraxis des BVerfG), siehe Pieroth/Schlink, Staatsrecht II. Grundrechte, 27. Aufl. 2011, Rdnr. 545; Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. II, 2010, § 60 Rdnr. 6 ff. m.w.N.; Hufen, Staatsrecht II. Grundrechte, 3. Aufl. 2011, § 22 Rdnr. 4.

[3] Vgl. zu den Besonderheiten bei Verfassungsbeschwerden gegen Gerichtsentscheidungen bereits Fall 1

[4] Die Problematik wird in der Literatur zuweilen unter dem Stichwort der "Grundrechtsmündigkeit" erörtert, was u.U. zu Missverständnissen führen kann; siehe dazu Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 11. Aufl. 2011, Art. 19 Rdnr. 13 f.

[5] BVerfGE 93, 1 (15 f.).

[6] Vgl. BVerfGE 93, 1 (17) sowie bereits BVerfGE 41, 29 (44 ff.). Das Recht zur Kindeserziehung in religiöser und weltanschaulicher Hinsicht erfährt dadurch, dass es nicht allein aus dem Elternrecht (Art. 6 II), sondern aus Art. 4 I i.V.m. 6 II GG hergeleitet wird, einen stärkeren Schutz. Das bloße Elternrecht, das bereits von vornherein in einem Spannungsverhältnis zu dem keineswegs nachgeordneten staatlichen Erziehungsauftrag (Art. 7 I GG) steht, ließe dem Staat mehr Möglichkeiten. So kann der Staat beispielsweise in Bereichen, die die Glaubensfreiheit nicht berühren, die in der Schule zu verfolgenden Lernziele ohne Rücksicht auf die Vorstellungen der Eltern frei bestimmen; siehe dazu bereits Seifert/Hömig (Hrsg.), Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 6. Aufl. 1999, Art. 6 Rdnr. 17 m.w.N.

[7] BVerfGE 93, 1 (19).

[8] Seidl/Söllner/Haas, Abweich. Meinung zu BVerfGE 93, 1, BVerfGE 93, 25 (32).

[9] Insofern besteht ein erheblicher Unterschied zu der Wirkung von Kreuzen und anderen Glaubenssymbolen, denen der Bürger im Alltagsleben (etwa bei Spaziergängen) begegnet. Ein anderer erheblicher Unterschied liegt darin, dass diese Symbole nicht vom Staat, sondern von den jeweiligen Religionsgemeinschaften aufgestellt werden und daher nicht den Eindruck erwecken, der Staat identifiziere sich mit ihnen; vgl. dazu BVerfGE 93, 1 (18).

[10] BVerfGE 93, 1 (20).

[11] Seidl/Söllner/Haas, Abweich. Meinung, BVerfGE 93, 25 (29).

[12] Beispiele: Art. 9 II, 2 I GG.

[13] Siehe insbes. Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 6. Aufl. 2010, Art. 4 Rdnr. 84 ff.; von  Campenhausen, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, 3. Aufl., Bd. VII, 2009, § 157 Rdnr. 111; Jarass/Pieroth, a.a.O., Art. 4 Rdnr. 28 m.w.N.

[14] BVerfGE 33, 23 (31) mit Nachweisen ähnlicher Stellungnahmen in der Literatur.

[15] Beispiel: Die Glaubensfreiheit kann nicht das Recht gewähren, aus religiösen Gründen "Menschenopfer" zu bringen.

[16] Dürig, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 2 I Rdnr. 69 ff.

[17] Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie des Artikel 19 Abs. 2 Grundgesetz, 1962, S. 32, 51; ähnlich Rüfner, Der Staat 1968, 41 (56 ff.).

[18] Vgl. zur Problematik Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/2, 1994, S. 534 f., 661 f.

[19] Vgl Starck, a.a.O., Art. 1 Rdnr. 275.

[20] Vgl. zur Problematik Pieroth/Schlink, Staatsrecht II. Grundrechte, 27. Aufl. 2011, Rdnr. 334 ff.

[21] Vgl. beispielhaft BVerfGE 32, 98 (108); 30, 173 (193).

[22] Jarass/Pieroth, a.a.O., Vorb. vor Art. 1 Rdnr. 50 m.w.N.

[23] Siehe zur Problematik Kluge, ZRP 1992, 141; Kloepfer, a.a.O., § 51 Rdnr. 65 ff.

[24] Vgl. BVerfGE 93, 1 (21) sowie bereits BVerfGE 34, 165 (181).

[25] BVerfGE 93, 1 (24).

[26] Seidl/Söllner/Haas, Abweich. Meinung zu BVerfGE 93, 1, BVerfGE 93, 25 (31 f.).

[27] Dazu allgemein Starck, a.a.O., Art. 4 Abs. 1, 2 Rdnr. 31 (vgl. aber auch Rdnr. 29).

[28] BVerfGE 41, 65 und jetzt auch BVerfGE 93, 1 (22).

[29] Die Verpflichtung des Staates zur Wahrung der relig.-weltansch. Neutralität ergibt sich aus der Glaubensfreiheit in Verbindung mit Art. 3 III 1, 33 III, 140 GG i.V.m. 136, 137 WRV, Jarass/Pieroth, a.a.O., Art. 4 Rdnr. 5 m.w.N.; Hömig (Hrsg.), Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 9. Aufl. 2010, Art. 140 Rdnr. 9.

[30] Vgl. bereits BVerfGE 41, 29 (51 f.).

[31] BVerfGE 93, 1 (23).

[32] Seidl/Söllner/Haas, Abweich. Meinung, BVerfGE 93, 25 (28).

[33] Religiös-weltansch. Organisationen wie etwa die Kirchen darf der Staat nur im Rahmen der sozialen und caritativen Zusammenarbeit, nicht aber bei der Präsentation oder Verbreitung des Glaubens und seiner Symbole fördern.

[34] Siehe dazu bereits Renck, NVwZ 1994, 544 (547).

[35] Denkbar wäre es etwa, Art. 140 GG einen zweiten Absatz hinzuzufügen mit dem Wortlaut: "Abweichend von Artikel 4 kann in den Ländern die Landesverfassung vorsehen, dass die Räumlichkeiten öffentlicher Schulen mit christlichen Glaubenssymbolen ausgestattet werden."

[36] EGMR, Urt. v. 03.11.2009, Lautsi/Italien; siehe dazu Michl, Jura 2010, 690.

[37] EGMR, Urt. v. 03.11.2009, Lautsi/Italien.

 

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