4. Kapitel: Die Verfassung der Supranationalen Union

01.03.01

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48.   A. Parallelen zwischen den Gründungsverträgen der Europäischen Gemeinschaften und einer Verfassung haben im europarechtlichen Schrifttum schon früh zu einer verfassungsrechtlichen Deutung der Verträge geführt. Bereits Ophüls verwies darauf, daß sie eine Grundordnung enthielten, ein in sich geschlossenes System, das im Gemeinschaftsrecht ähnlich herrsche wie die staatliche Verfassung im nationalen Bereich. Er sprach im Hinblick auf die z.T. erst für spätere Zeitpunkte festgelegten Integrationsschritte von Planungsverfassungen. Ipsen bezeichnete sie später in Ansehung der bereits mehrfach erfolgten Vertragsänderung als Wandelverfassungen. In den achtziger Jahren ging die Lehre mehr und mehr dazu über, die Verträge unter Hinweis auf ihre z.T. verfassungstypischen Regelungsinhalte und Funktionen als Verfassung zu charakterisieren; dabei war durchaus an eine Verfassung i.S.d. normativen Verfassungsbegriffs der Verfassungstheorie gedacht. Heute entspricht die verfassungsrechtliche Sichtweise innerhalb der Lehre zum Europarecht der ganz herrschenden Meinung. Zudem wird, angestoßen durch Vorstöße des Europäischen Parlamentes von 1984 und 1994, eine Diskussion über eine förmliche Neuverfassunggebung geführt. [55]

49.   Der Europäische Gerichtshof hat die verfassungsrechtliche Sichtweise zunächst durch seine kontinuierlich rechtsstaatlich-staatsanaloge und systembildende Rechtsprechung gefördert und schließlich mit der Entscheidung Les Verts von 1986 und dem 1. Gutachten zum EWR-Abkommen von 1991 übernommen, ohne sie allerdings näher zu begründen oder zu erläutern. Das Bundesverfassungsgericht hat verschiedentlich untechnisch von einer Gemeinschaftsverfassung gesprochen, zur verfassungstheoretischen Einordnung der Verträge aber bislang nicht Stellung genommen. In der Staatsrechtslehre und in der Allgemeinen Staatslehre ist die verfassungsrechtliche Sichtweise hingegen ganz überwiegend auf Ablehnung gestoßen. Der zentrale Einwand lautet, daß nur ein Staat eine Verfassung haben könne, was mit dem Rückgriff auf verschiedene klassische staatsbezogene Verfassungsvorstellungen belegt wird. Der zweite Einwand lautet, daß nur ein europäisches Volk eine europäische Verfassung geben könne, ein solches sich aber noch nicht gebildet habe. Seltener wird auch geltend gemacht, daß nur eine europäische Nation die Grundlage für eine europäische Verfassung bilden könne. Mittlerweile ist ein Streit um die Verfassung der Europäischen Union entbrannt, bei dem es nicht nur um Begriffe geht: Es geht auch allgemein um die politische und staatstheoretische Bedeutung des Primärrechts der Union auf der einen und des nationalen Verfassungsrechts auf der anderen Seite, und damit auch um die Bedeutung der Institutionen Union und Staat. [56]

50.   Der Streit um die Verfassung der Europäischen Union erhält durch eine unvermeidliche Nebenfolge der Integration, die in Europa bereits eingetreten ist, besonderes Gewicht. Die nationale Verfassung büßt einen Teil ihrer politischen Steuerungsfähigkeit ein, denn in ihrem territorialen Wirkungskreis entfalten sich Kräfte, die nicht ihrer Autorität unterworfen sind; außerdem wird ihre Autorität gegenüber den ihr unterstellten Akteuren durch abweichende Vorgaben aus einer anderen Rechtsordnung punktuell durchbrochen. Dieser Bedeutungsverlust der Verfassungen der Mitgliedstaaten zeigt sich insbes. auf dem Gebiet der Grundrechte, aber auch bei materiellen Verfassungsgrundsätzen und sogar bei nationalen Verfassungsspezifika, die als solche nicht in einem Zusammenhang mit der Tätigkeit der Union stehen. Durch diese Entwicklung wird die Integrationsfunktion der Verfassungen beeinträchtigt, auf die sich gerade der moderne Verfassungsstaat der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gestützt hat. Um heute in dem um die Union erweiterten politischen Gesamtsystem das sicherzustellen, was früher in den Mitgliedstaaten gegeben war, müssen die nationalen Verfassungen durch ein Pendant auf der Ebene der Union ergänzt werden, welches ihre Funktionsdefizite ausgleicht. Die derzeitigen Gründungsverträge der Europäischen Union erfüllen diese Anforderungen nicht. Das macht den Gedanken an eine Verfassunggebung aktuell. [57]

51.   B. (I.) Die zentrale Frage in der europäischen Verfassungsdiskussion ist die, ob der europäische Herrschaftsverband in seiner gegenwärtigen Gestalt überhaupt eine Verfassung haben kann, d.h. i.S.d. Verfassungstheorie zu einer Verfassung fähig ist (Verfassungsfähigkeit). Geboren und durchgesetzt in der Epoche der Nationalstaatlichkeit, ist die Institution der Verfassung traditionell mit der Organisationsform des Staates verbunden. Ihre Theorie wurde für den Staat entwickelt, die historischen Verfassunggebungen, die als Referenz dienten, fanden in Staaten statt. Mit der Supranationalen Union gibt es heute eine völkerrechtliche Organisationsform, die dem Staat nahekommt, doch bestehen Zweifel, ob das schon eine Übertragung der Verfassungsidee zuläßt. Zwar bedarf die Union ebenso wie der Staat eines festen Rahmens, der sie bei aller Entwicklungsoffenheit verläßlich in bestimmte Bahnen lenkt und so die vom Verfassungsstaat bekannte Grundsicherheit schafft, doch bliebe ihre Verfassung sowohl in ihrer Legitimität (keine Zurückführbarkeit auf ein Staatsvolk) als auch in ihrer normativen Wirkung (nur Komplementärverfassung, kein normhierarchischer Vorrang gegenüber dem mitgliedstaatlichen Recht) hinter der eines Staates zurück. [58]

52.   Bei dieser Frage führt jede Lösung zu Folgeproblemen. Akzeptiert man die Möglichkeit einer Verfassung für die Union, besteht die Gefahr einer Verwässerung des Verfassungsbegriffs und damit einer schleichenden Entwertung des Konzepts der Verfassung. Verneint man sie, droht je nach den unmittelbar daraus gezogenen Konsequenzen eine vorübergehende Stagnation der Integration mit anschließendem Zentralisierungsschub, ein unzureichend vorbereiteter vorzeitiger Übergang in den geo-regionalen Vereinigungs-Staat, eine allmähliche Untergrabung der Herrschaft der Verfassung durch immer ausgedehntere „verfassungsfreie Zonen“ oder eine weitere Komplizierung der Supranationalen Union durch eine erst noch einzuführende, in ihrer Wirkung schwer berechenbare verfassungsähnliche Institution. Die Verfassungslehre steht hier vor einer schwierigen Weichenstellung, die man als das Verfassungsdilemma in der supranationalen Integration umschreiben kann. [59]

53.   Als Ausweg aus dem Verfassungsdilemma schlägt diese Arbeit die vorsichtige Einbeziehung einzelner nichtstaatlicher Organisationsformen in die Verfassungstheorie vor. Es muß unterschieden werden zwischen den gewöhnlichen nichtstaatlichen Verbänden, die aus vielfachen Gründen nicht für eine Verfassung geeignet sind, und den wenigen herausragenden Typen, bei denen sich aufgrund einer besonderen Staatsähnlichkeit die Übernahme des Konzepts der Verfassung trotz der damit verbundenen Probleme rechtfertigen läßt. Auf diese Weise läßt sich das zentrale Anliegen der Verfassungstheorie, für eine verläßliche grobe Ordnung der politischen Verhältnisse und eine Grundausrichtung und Mäßigung der öffentlichen Gewalt zu sorgen, in das Zeitalter der relativierten und integrierten Staatlichkeit weitertragen, ohne daß dabei der Kern dieser Theorie, der Grundgedanke der Bindung jedes Machtträgers in einem Herrschaftsverband an übergeordnete rechtliche Vorgaben, verändert würde. Es handelt sich also um eine Fortschreibung, nicht Verfälschung. Dieser Lösungsansatz erlaubt eine möglichst weitgehende Verfassungsgebundenheit öffentlicher Gewalt auch unter den Bedingungen der Globalisierung und Georegionalisierung und berücksichtigt außerdem den Bedarf an vorstaatlichen Verfassungserfahrungen im multinationalen Integrationsverband, auf die sich später bei der Erarbeitung einer Staatsverfassung zurückgreifen läßt. Er vermeidet die negativen Folgen einer Integration ohne Verfassung, vernachlässigt aber nicht die Gefahren, die mit einer Öffnung der Verfassungstheorie einhergehen. Es ist der Lösungsansatz, der mit den geringsten Nachteilen aus dem Verfassungsdilemma herausführt. [60]

54.   Dogmatisch lassen sich nichtstaatliche Verbände dadurch in die Verfassungstheorie einbeziehen, daß man innerhalb eines weiter gefaßten Verfassungsbegriffs verschiedene Verfassungstypen unterscheidet. Bisher sind nach der Art des Verbandes drei Verfassungstypen zu unterscheiden, nämlich die Staatsverfassung, die bundesstaatliche Gliedstaatsverfassung und ‑ ggf. - die Unionsverfassung. Die essentiellen Lehren der Verfassungstheorie sind auf alle Verfassungstypen anwendbar, während weitere Lehren nur für bestimmte Verfassungstypen gelten und allenfalls nach umsichtiger Anpassung auf andere übertragen werden können. Die Einbeziehung staatsähnlicher Verbände bedeutet also keine vollständige Gleichstellung einer etwaigen Unionsverfassung mit der eines Staates. [61]

55.   Über die Voraussetzungen der Verfassungsfähigkeit ist in der Verfassungstheorie noch keine Diskussion geführt worden, weil der Begriff der Verfassungsfähigkeit dort noch nicht eingeführt ist. Es kann daher nur allgemein auf Sinn und Zweck der Verfassung und die unter diesem Gesichtspunkt wichtigen Eigenschaften des Staates abgestellt werden. Dabei müssen das zentrale Anliegen und der Kerngedanke der Verfassungstheorie (s.o.) im Mittelpunkt stehen. Erste Voraussetzung ist, daß es sich um einen Verband, eine Körperschaft handelt. Außerdem ist jede Verfassung auf einen einzigen, bestimmten Verband beschränkt, der allerdings auch ein Gesamtverband sein kann (Verbandsspezifität der Verfassung). Eine „europäische Verfassung“ im Wortsinne, die unmittelbar an das Territorium anknüpft oder die rechtlich unverbundenen europäischen Verbände EU, Europarat und OSZE unter einer Ordnung vereint, ist also nicht möglich. Weitere Voraussetzungen sind ein hoher Organisationsgrad und weitreichende Kompetenzen, denn Verfassungen kommen nur für hochentwickelte Verbände mit politischem Gewicht in Betracht. Außerdem muß es sich um einen allgemeinen politischen Zusammenschluß handeln, denn die Institution der Verfassung ist für die rechtliche Ordnung politischer Gemeinschaften von Menschen und nicht als Steuerungsinstrument für Zweckverbände entwickelt worden. Ferner bedarf es einer nicht unerheblichen Autonomie bei der Aufgabenerfüllung, soll die Institution der Verfassung doch der Selbstkontrolle selbständiger Machtapparate und nicht der Beaufsichtigung von Erfüllungsgehilfen dienen. Zu dieser Autonomie gehört bei einem völkerrechtlichen Verband auch eine Verselbständigung des politischen Willens gegenüber den einzelnen Willen der Mitgliedstaaten und ihrer Regierungen. Deswegen muß zumindest ein erheblicher Teil der wesentlichen Entscheidungen unitarischen Organen überantwortet oder dem Mehrheitsprinzip unterstellt sein. Verstände man den Luxemburger Kompromiß von 1966 als rechtlich bindend, müßte man daher die Verfassungsfähigkeit der Europäischen Gemeinschaften bis in die späten achtziger Jahre verneinen. Schließlich muß ein verfassungsfähiger Verband von einer engen Verantwortungs- und Solidargemeinschaft getragen sein, die eine Parallele zur staatlichen Schicksalsgemeinschaft erkennen läßt, denn die Funktion einer Verfassung ist auch die eines grundlegenden rechtlichen Dokumentes, das dem Bürger den Schutz und Beistand der Gemeinschaft garantiert. - Bei einer Supranationalen Union sind diese Voraussetzungen grundsätzlich erfüllt. Im Einzelfall kann die Verfassungsfähigkeit allerdings daran scheitern, daß den Regierungen der Mitgliedstaaten eine so weitgehende Kontrolle über die Politik der Union eingeräumt ist, daß letztlich nicht mehr von autonomer Aufgabenerfüllung gesprochen werden kann. [62]

56.   (II.) Wie man die begrifflichen Voraussetzungen der Verfassung definiert, hängt ebenso wie bei den Voraussetzungen der Verfassungsfähigkeit und vielen anderen Fragen der Verfassungstheorie hochgradig von Wertungen ab. Deswegen lassen sich keine zwingenden Aussagen treffen, wie sie bei logischen Fragestellungen möglich sind. Nach der hier vertretenen Ansicht müssen diejenigen Merkmale vorhanden sein, die für die Wirkung der Verfassung als rechtliche Institution erforderlich sind. Das sind im wesentlichen formelle, aber auch einige materielle Merkmale. Eine Verfassung in einem nur formellen oder nur materiellen Sinne kann es nicht geben. Deswegen ist vieles, was in der europäischen Verfassungsdiskussion als „Verfassung“ bezeichnet wird, nicht wirklich als Verfassung i.S.d. Verfassungstheorie anzuerkennen.

57.   Die einzelnen formellen Voraussetzungen einer Unionsverfassung sind: der durch normativen Gesamtakt erlassene Normenkomplex (keine allmähliche Verfassungsherausbildung, keine Verfassungsbegründung durch richterliche Rechtsfortbildung); die Schriftform; der Vorrang (mit der Konsequenz, daß die Unionsverfassung nur in einem Verfassungsvertrag liegen kann); die erschwerte Abänderbarkeit und schließlich die Selbstkennzeichnung als Verfassung. Die materiellen Voraussetzungen einer Unionsverfassung sind: die organisatorische Ausgestaltung der Union; die Bestimmung des Verhältnisses zu den Mitgliedstaaten (bis hin zum Bereitstellen von Sanktionsinstrumenten für den Krisenfall, daß ein Mitgliedstaat aus der Verfassungsordnung ausbricht); die Schaffung der verbandsbezogenen rechtlichen Voraussetzungen für die Entstehung der supranationalen öffentlichen Gewalt und schließlich die politisch-philosophische Grundausrichtung der Union. [63]

58.   (III.) Ein besonderes Problem bildet die Verfassunggebung in der Supranationalen Union. Schon der Verfassunggeber bestimmt sich anders als im Staat. Grundsätzlich ist die Institution der Verfassung nicht auf einen bestimmten Anwenderkreis festgelegt. Verfassunggeber ist, wem es gelingt, Normen zu erlassen, die sich innerhalb des von ihnen betroffenen Herrschaftsverbandes mit der Autorität einer Verfassung im normativen Sinne durchsetzen. Im Staat soll das nach unserer Vorstellung das Volk, es kann aber auch ein anderer Machtträger sein. In der Supranationalen Union ist hingegen die verfassunggebende Gewalt bei den Mitgliedstaaten fixiert, denn die Verfassung kann als die höchstrangige Rechtsquelle in einem völkerrechtlichen Verfassungsverband nur in einem als Verfassung ausgestalteten Gründungsvertrag (Verfassungsvertrag) liegen, und die Rechtsmacht, völkerrechtliche Verträge zu schaffen, ist nach dem Völkerrecht den Staaten vorbehalten. Selbst wenn diese Andere beteiligen, ist die Verfassunggebung selbst, nämlich der Vertragsschluß als die Maßnahme, welche die Verfassungsnormen entstehen läßt, ausschließlich ihnen zuzurechnen. Eine verfassunggebende Gewalt des Volkes i.S.d. demokratischen Verfassungstheorie kann es in einem völkerrechtlichen Verfassungsverband nicht geben. [64]

59.   Das bedeutet indessen nicht, daß es auf die Einbeziehung des Volkes in das Verfahren der Verfassunggebung nicht ankäme. Aus Sicht der demokratischen Verfassungstheorie muß die Unionsverfassung in ihrer Legitimität der vom Volk gegebenen Verfassung wenigstens so weit wie möglich angenähert werden. Aus Sicht der Allgemeinen Staatslehre kommt es zudem auf eine große Integrationskraft an, denn schließlich muß die Unionsverfassung die Verfassungen der Mitgliedstaaten in ihrer bereits beeinträchtigten Integrationsfunktion (s.o.) wirkungsvoll ergänzen. Beides legt eine besondere Ausgestaltung des Verfahrens nahe, bei dem der völkerrechtliche Vertragsschluß durch begleitende legitimitäts- und integrationskraftvermittelnde Verfahrensschritte ergänzt wird. Einer dieser Schritte ist ein Doppelreferendum, in dem die Bürger gleichzeitig als Unionsbürger über die Billigung der Unionsverfassung und als Staatsbürger über die Ratifizierung des Verfassungsvertrages durch ihren Mitgliedstaat entscheiden. Sie treten dabei als Angehörige zweier „Völker“ im demokratietheoretischen Sinne auf: des nationalen Staatsvolkes und eines Unionsvolkes, das zwar kein Staatsvolk ist, aber als allgemeine politische Gemeinschaft von Menschen ebenso für seinen Herrschaftsverband demokratische Legitimation vermitteln kann. Ein zweiter Schritt ist die Einberufung einer vorbereitenden Verfassungsversammlung, deren notwendige Unterstützung durch eine breite öffentliche Diskussion durch flankierende Maßnahmen zur Förderung einer unionsweiten öffentlichen Verfassungsdiskussion gesichert wird. Solche Schritte lassen es sinnvoll erscheinen, zunächst einen Vorvertrag über die Modalitäten der Verfassunggebung zu schließen. [65]

60.   Ein weiteres besonderes Problem bildet die Verfassungsänderung. Die Unterscheidung zwischen einer verfassunggebenden und einer verfassungsändernden Gewalt erscheint in der Supranationalen Union auf den ersten Blick problematisch, weil ein völkerrechtlicher Vertrag, wie ihn die Unionsverfassung darstellt, herkömmlicherweise von denselben Beteiligten, nämlich den Staaten, auf demselben Wege geändert wie geschlossen wird, und seine Änderung keinen Einschränkungen unterliegt. Allerdings erlaubt es das Recht der völkerrechtlichen Verträge, andere Verfahren der Vertragsänderung zu vereinbaren (vgl. Art. 40 I WVRK), etwa die Änderung durch eine qualifizierte Mehrheit der Mitgliedstaaten oder die autonome Vertragsänderung durch die Unionsorgane. In diesem Falle ist die Unterscheidung unproblematisch; die vertragsändernde ist eine begrenzte, erst mit dem Vertrag geschaffene Gewalt. Vorgeschlagen werden hier drei verschiedene, nach der Tragweite der Änderung abgestufte Verfahren, in die auch das Unionsvolk bzw. seine Vertretung einzubeziehen ist. Änderungen von untergeordneter Bedeutung können danach auch ohne die Zustimmung sämtlicher Mitgliedstaaten vorgenommen werden.

61.   Die Mitgliedstaaten können sich kraft ihrer Stellung als „Herren des Vertrages“ über die Vorschriften des Verfassungsvertrages über das Änderungsverfahren hinwegsetzen. Dasselbe gilt hinsichtlich der - geschriebenen und ungeschriebenen - Grenzen der Verfassungsänderung. Die aus der Souveränität fließende vertragsschließende Gewalt der Mitgliedstaaten wird durch die Ausgestaltung des Gründungsvertrages als Verfassungsvertrag nicht beschränkt. Ein extra-konstitutioneller Änderungsvertrag wäre also völkerrechtlich wirksam. Doch er bedeutete den Bruch mit der alten Ordnung, die zumindest implizite Aufhebung der Verfassung bzw. Neuverfassunggebung. Die besondere demokratische Legitimation, die aus dem aufwendigen Begleitverfahren resultierte und sich auf die alte Verfassung, d.h. den Gründungsvertrag in seiner alten Form als Verfassungsvertrag bezog, ginge damit verloren. [66]

62.   C. Die Gründungsverträge der Europäischen Union sind keine Verfassung, obwohl sie unproblematisch die meisten Voraussetzungen einer Verfassung erfüllen. Bis zur Einführung des Zwangsgeldes (Art. 171 II [heute 228 II] EGV, 143 II EAGV) fehlte es an Sanktionsinstrumenten, um bei schweren Vertragsbrüchen einzelner Mitgliedstaaten die Rückkehr zur verfassungsmäßigen Ordnung durchzusetzen. Damit ließen die Verträge Fragen offen, die für das Funktionieren des Gemeinwesens von elementarer Bedeutung sind. Bis zur Reform von Amsterdam fehlte es außerdem an der umfassenden Festschreibung der Grundwerte und Leitideen der Union (vgl. nunmehr Art. 6 I EUV). Heute fehlt mit der Selbstkennzeichnung als Verfassung nur noch ein notwendiges Verfassungsmerkmal, dessen Aussagekraft aber nicht unterschätzt werden darf: In ihm zeigt sich die ‑ bislang nicht vorhandene - Bereitschaft der Mitgliedstaaten, sich auf eine Verfassung für ihren Integrationsverband und die damit verbundene politische Aufwertung dieses Verbandes einzulassen. [67]

63.   D. Die Schaffung einer Verfassung für die Europäische Union wird eine der großen Aufgaben dieses Jahrzehntes sein. Schon heute stellt sich daher die Frage nach den Anforderungen an die Verfassung einer Supranationalen Union.

64.   (I.) Aus Sicht einer allgemeinen Verfassungslehre für die Supranationale Union stehen konzeptionelle und redaktionelle Anforderungen im Vordergrund. Die Unionsverfassung muß dieselben Funktionen wie die Staatsverfassung erfüllen, soweit diese nicht an die Stellung als Staat anknüpfen, daneben aber auch der Dynamik der Union gerecht werden, Kontinuität und Wandel vereinbaren sowie der eigenen Rechtsnatur als völkerrechtlicher Vertrag Rechnung tragen. Dies alles in vielen Sprachversionen, die möglichst exakt übereinstimmen, ohne aber dadurch an Anschaulichkeit zu verlieren. Das geht über das hinaus, was eine herkömmliche Staatsverfassung leisten muß. Nicht eine möglichst frühe sondern gut durchdachte Verfassunggebung ist daher geboten.

65.   Eine wichtige Anforderung ist Transparenz. Weil die Supranationale Union zwangsläufig kompliziert ist, darf ihre Verfassung nicht noch zu weiteren, vermeidbaren Komplizierungen führen. So darf es nur eine einzige, übersichtlich gestaltete Verfassungsurkunde für nur einen supranationalen Herrschaftsverband mit nur einer Rechtspersönlichkeit und einer einheitlichen, übersichtlichen Organstruktur geben. Sie sollte eine begrenzte Anzahl einfach strukturierter Entscheidungsverfahren vorsehen - und dafür ggf. auch geringfügige Effizienzeinbußen in Kauf nehmen. Weil sie als Wandelverfassung der dynamischen Supranationalen Union häufiger als Staatsverfassungen an veränderte Problemlagen oder Perspektiven angepaßt werden muß, sollte sie Änderungen in rechtstechnischer Hinsicht durch einen konsequent modularen Aufbau erleichtern, bei dem gleichartige und verwandte Fragen so weit wie möglich in geschlossenen Regelungskomplexen konzentriert sind. Sinnvoll wäre z.B. die Zusammenfassung aller wichtigen Verfahrensvorschriften in einem einzigen Modul.

66.   Außerdem ist auf Verständlichkeit zu achten, denn eine Verfassung, auch die Unionsverfassung, ist kein Regelwerk für Spezialisten, sondern wendet sich unmittelbar an alle Juristen in ihrem Geltungsbereich, die sie bei der Schaffung, Anwendung und Fortbildung des sonstigen Rechts beachten müssen, sowie an den Bürger. Daher sind eine möglichst unkomplizierte Regelungstechnik, ein freizügigerer Einsatz von unbestimmten Rechtsbegriffen wie in Staatsverfassungen und ein möglichst weitgehender Verzicht auf bürokratische Detailregelungen geboten. Ferner bedarf es eines zur Identifikation einladenden Sprachstils, denn eine Verfassung ist nicht nur ein Regelwerk, sondern auch ein politisches Manifest, das den Einzelnen über seine Inhalte zur Identifikation mit dem Gemeinwesen einladen soll.

67.   Die Gründungsverträge der Europäischen Union sind in ihrer heutigen Gestalt so weit von diesen Anforderungen entfernt, daß eine Umwandlung und Zusammenführung zu einem Verfassungsvertrag ohne eine tiefgreifende Reform nicht sinnvoll erscheint. Ein nicht unerheblicher Teil des Primärrechts wird im Rahmen einer Verfassunggebung neu formuliert werden müssen. Nur der modulare Aufbau ist mit den getrennten Regelungsabschnitten zu den einzelnen Politiken im Dritten Teil des EGV bereits stellenweise verwirklicht. [68]

68.   Aus Sicht einer allgemeinen Verfassungslehre für die Supranationale Union bestehen auch inhaltliche Anforderungen. Dazu gehört zunächst die bereits erwähnte Homogenitätsklausel. Des weiteren bedarf es zahlreicher Regelungen zu den Grundlagen, z.B. zur Rechtspersönlichkeit der Union, zu den mitgliedschaftlichen Grundpflichten bzw. zur Unionstreue (in beide Richtungen) und zu den Grundsätzen der Kompetenzverteilung. Die Unionsverfassung sollte sich auch mit den Grundlagen im engeren Sinne befassen, d.h. diejenigen Rechtssätze bereithalten, die für das Funktionieren der Union als supranationaler Integrationsverband unentbehrlich sind, für die Europäische Union bzw. die Europäischen Gemeinschaften aber noch größtenteils von der Rechtsprechung entwickelt werden mußten. Sie sollte also auch die unmittelbare innerstaatliche Geltung des Unionsrechts, die Eigenständigkeit der supranationalen und der staatlichen Rechtsordnungen und den Vorrang des Unionsrechts ansprechen. Ferner muß sie Vorkehrungen zur Durchsetzung des Unionsrechts treffen, d.h. Sanktionsinstrumente bereitstellen, die durchaus über die bisher in der Europäischen Union vorhandenen hinausgehen können, aber auch vorgreifende Lösungen zur Durchsetzung des Unionsrechts im Alltag enthalten. So könnte bereits in der Verfassung die unmittelbare Anwendbarkeit von Richtlinien nach versäumter Umsetzungsfrist oder eine strenge unionsrechtliche Staatshaftung angeordnet werden. Schließlich muß die Unionsverfassung auch die Aufnahme, den Austritt und den Ausschluß von Mitgliedstaaten und das dabei zu beachtende Verfahren regeln. - Allgemeine Aussagen zu Anforderungen an die Kompetenzordnung sind hingegen schon wegen der Dynamik der Union kaum möglich. Kompetenzvorschriften sind mit Bedacht zu formulieren, um einer ausufernden Auslegung vorzubeugen. Das Subsidiaritätsprinzip ist in erster Linie als staatstheoretisches Prinzip zur Kompetenzverteilung fruchtbar zu machen. [69]

69.   (II.) Zu den speziellen Anforderungen an die Verfassung einer freiheitlich-demokratischen Supranationalen Union beschränkt sich der Beitrag dieser Arbeit auf einige z.T. überschlägige Überlegungen zu Ansätzen und Einzelaspekten. Danach sollte das Organisationsrecht, um auf der Ebene der Union Demokratie zu verwirklichen, so ausgestaltet werden, daß demokratische Legitimation primär durch das Unionsvolk und dessen Volksvertretung vermittelt wird, während die schwächere ebenenfremde Legitimierung durch die sachferneren Staatsvölker der Mitgliedstaaten und die sie vertretenden nationalen Parlamente nur eine ergänzende ist (demokratietheoretisches Primat der Legitimierung durch das Unionsvolk). Zumindest mit fortschreitender Integration muß daher das politische Gewicht innerhalb der Union vom föderalen Organ Rat auf das Unionsparlament und teilweise auch andere vom Unionsvolk gewählte oder mittelbar legitimierte Unionsorgane übergehen. Allerdings wird es angesichts der zusätzlichen Legitimierung durch die hinter den Regierungen im Rat stehenden Staatsvölker aus demokratietheoretischer Perspektive zumindest für einen langen Übergangszeitraum ausreichen, wenn wesentliche Maßnahmen nicht ohne die Zustimmung des Unionsparlamentes getroffen werden können. Letzteres muß im übrigen auf seine Aufgabe zugeschnitten sein. Dafür muß das Europäische Parlament so umgewandelt werden, daß es sich nicht mehr aus Vertretern „der Völker der in der Gemeinschaft zusammengeschlossenen Staaten“ (Art. 189 EGV, 107 EAGV, 20 EGKSV) sondern „des Volkes in der Union“ zusammensetzt. Außerdem ist die im Verhältnis zur Bevölkerungsgröße ungleiche Verteilung der Sitze auf die Mitgliedstaaten parallel zu den Fortschritten der Integration abzubauen. [70]

70.   Um den gemeinsamen Grundwert der Menschenrechte/Menschenwürde umzusetzen, muß die Unionverfassung Grundrechte gewährleisten und deren effektiven Schutz sicherstellen. Dafür bedarf es eines längeren Grundrechtsartikels, der sich nicht mit einer rechtstechnischen Absicherung begnügt, sondern auch durch zur Identifikation einladende Formulierungen der Integrationsfunktion der Verfassung gerecht wird. Ein ausgearbeiteter Grundrechtskatalog ist hingegen nur sinnvoll, wenn er das Resultat eines intensiven Prozesses der Identitätsfindung und ‑vergewisserung bildet, an dem eine breite unionsweite Öffentlichkeit aktiv teilgenommen hat. Die Arbeiten des vom Europäischen Rat eingesetzten „Gremiums“ sollten also nicht gleich zur Verabschiedung eines Grundrechtskataloges führen, sondern als Grundlage für eine europäische Grundrechtsdiskussion fruchtbar gemacht werden. Der Beitritt zu völkerrechtlichen Menschenrechtsabkommen wird - als zusätzliche Sicherung - durch einen eigenen Grundrechtskatalog nicht in Frage gestellt. Insbesondere ist ein Anschluß an die Europäische Menschenrechtskonvention als Ergänzung zur eigenen Grundrechtsordnung für die Europäische Union nicht weniger sinnvoll als für ihre Mitgliedstaaten.

71.   Um eine rechtsstaatliche Handhabung der Kompetenzvorschriften sicherzustellen, sollte eine freiheitlich-demokratische Unionsverfassung keine Kompetenzergänzungsvorschriften nach dem Muster der Art. 235 (heute 308) EGV, 203 EAGV, 95 EGKSV mehr enthalten oder sie zumindest durch strenge Voraussetzungen materieller und formeller Art im rechtsstaatlichen Sinne zähmen. Außerdem wäre als besonderer Rechtsbehelf für die Mitgliedstaaten eine außerordentliche Kompetenzbeschwerde in Erwägung zu ziehen, die den Gerichtshof verpflichtet, in einem besonderen Verfahren in einer erweiterten Besetzung, etwa unter Hinzuziehung von Richtern aus den mitgliedstaatlichen obersten Gerichten oder Verfassungsgerichten, noch einmal über die Kompetenzfrage zu entscheiden. Zur Umsetzung des Grundwertes der Sozialstaatlichkeit müssen ein allgemeines Sozialstaatsprinzip oder soziale Grundrechte in die Verfassung aufgenommen werden, die ein generelles rechtliches Gegengewicht zu den wirtschaftspolitischen Strukturprinzipien und den auf freie wirtschaftliche Betätigung gerichteten Grundrechten und Grundfreiheiten bilden. Außerdem müssen einschlägige Kompetenzen, auch zum Einsatz von Finanzierungsmitteln, bereitgestellt werden. Einen erheblichen Beitrag zur Verteidigung der Sozialstaatlichkeit werden allerdings in der Supranationalen Union ebenso wie im Staat gesellschaftliche Kräfte leisten müssen. Die Unionsverfassung kann hier nur unterstützend wirken, indem sie ähnlich, wie bereits in Art. 191 EGV für die politischen Parteien, die wichtige politische und gesellschaftliche Rolle unionsweiter Interessenverbände wie Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände, Berufsverbände etc. unterstreicht. [71]

72.   Die vorliegende Untersuchung hat das Bild einer neuen Organisationsform ergeben, die aus dem Rahmen fällt. Es ist eine komplizierte Organisationsform, die immer wieder von neuem allen, die mit ihr befaßt sind, ein hohes Maß intellektueller Anstrengung abverlangt. Doch die Europäer wollten die starke Kraft einer geo-regionalen Gemeinschaft als Antwort auf die Herausforderungen der Globalisierung und Georegionalisierung, ohne dafür Grundwerte in Frage zu stellen oder nationale Eigenarten aufzugeben. Sie haben eine Lösung gefunden, welche dies weitgehend ermöglicht und einen sanften Übergang in einen europäischen Bundesstaat als Perspektive eröffnet. Dafür müssen Politik, Praxis und Wissenschaft immer wieder anspruchsvolle Transfer- und Innovationsleistungen erbringen, immer wieder tradierte geschlossene Konzepte der Staatstheorie oder Rechtswissenschaft aufbrechen, anpassen und fortführen. Wie könnte eine solche Lösung auch einfach sein?

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horizontal rule

[55]        4-A.I.1.

[56]        4-A.I.2/3.

[57]        4-A.II/III.

[58]        4-B.I.1.

[59]        4-B.I.2.

[60]        4-B.I.3.a/b.

[61]        4-B.I.3.c.

[62]        4-B.I.3.d.

[63]        4-B.II.

[64]        4-B.III.1.

[65]        4-B.III.2.

[66]        4-B.III.3.

[67]        4-C.

[68]        4-D.I.1.

[69]        4-D.I.2.

[70]        4-D.II.2.a.

[71]        4-D.II.2.b-d.

 

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