Chronik der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts - 1994 (2)

01.10.05

(= ERPL/REDP 7 [1995], S. 1125 [1149] ff.)

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III. Staatsorganisation und Staatsfunktionen

[I. Vorbemerkung (1994-1)] [II. Grundrechte (1994-1)]

1) Verfassungsorgane

Mit einem Beschluß vom 11. Oktober 1994[79] entschied das Bundesverfassungsgericht am Beispiel von Rechtsverordnungen die umstrittene Frage, welche Anforderungen an die Willensbildung der Bundesregierung im Umlaufverfahren zu stellen sind.[80] Rechtsverordnungen, zu denen der Gesetzgeber die Bundesregierung ermächtigt hat (vgl. Art. 80 GG), müssen auf eine Art und Weise zustande kommen, die es erlaubt, sie der Bundesregierung als Kollegialorgan zuzurechnen. Das bedeutet nicht, daß sie unbedingt in gemeinschaftlicher Sitzung der Regierungsmitglieder beschlossen werden müssen. Es ist grundsätzlich nichts dagegen einzuwenden, wenn die Zustimmung der Regierungsmitglieder - wie in § 20 Abs. 2 der Geschäftsordnung der Bundesregierung vorgesehen - auf schriftlichem Wege in einem sogenannten Umlaufverfahren eingeholt wird, denn auch dabei handelt es sich um ein Beschlußverfahren. Damit sind allerdings an das Umlaufverfahren die gleichen grundsätzlichen Anforderungen zu stellen wie an die Beschlußfassung in der Sitzung. Auch hier kann nur dann von einer Entscheidung des Kollegialorgans Bundesregierung gesprochen werden, wenn alle Regierungsmitglieder Gelegenheit zur Mitwirkung an der Entscheidung erhalten haben (Information), eine hinreichende Zahl von ihnen tatsächlich an der Beschlußfassung teilgenommen hat (Quorum) und eine Mehrheit von diesen der Vorlage zugestimmt hat (Majorität).

Die Beteiligung eines Regierungsmitglieds an der Beschlußfassung darf nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nur dann angenommen werden, wenn eine schriftliche Stellungnahme vorliegt. Ein Schweigen könne hier auch die Folge einer Nichtbeteiligung sein und dürfe nicht mit dem Schweigen in der Sitzung gleichgesetzt werden. Das Gericht beurteilte das in der bisherigen Staatspraxis angewandte Einwendungsausschlußverfahren, das beim Ausbleiben eines Widerspruchs innerhalb einer bestimmten Frist pauschal die Zustimmung unterstellte, als verfassungswidrig. Es betonte, daß auch die langjährige Staatspraxis ein solches Verfahren nicht legitimieren kann, denn die Staatspraxis ist Gegenstand, nicht Maßstab der verfassungsrechtlichen Beurteilung.[81]

2) Kommunale Selbstverwaltung

In einem Beschluß vom 26. Oktober 1994[82] erklärte das Bundesverfassungsgericht die Verpflichtung zur kommunalen Gleichstellungsbeauftragten (Frauenbeauftragten) für verfassungsgemäß. In mehreren Ländern schreibt das Gesetz den Gemeinden vor, eine sogenannte Gleichstellungsbeauftragte (bzw. Frauenbeauftragte) zu bestellen, deren Tätigkeit zur Verwirklichung der Gleichberechtigung von Männern und Frauen (Art. 3 Abs. 2 GG) beitragen soll. Sie kann zu allen Angelegenheiten der Gemeinde Stellung nehmen, die Fragen der Gleichberechtigung berühren. Sie ist in ihrer Amtsführung unabhängig und in Gemeinden mit mehr als 10.000 Einwohnern grundsätzlich hauptberuflich tätig. In Schleswig-Holstein hatten sich mehrere Gemeinden gegen diese Verpflichtung mit einer Kommunalverfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4b GG) zur Wehr gesetzt und die Verletzung von Art. 28 Abs. 2 GG geltend gemacht.

Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG bestimmt, daß den Gemeinden das Recht gewährleistet sein muß, alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu regeln. Er enthält eine institutionelle Garantie der kommunalen Selbstverwaltung. Er garantiert den Gemeinden nicht nur einen umfassenden eigenen Aufgabenkreis, sondern ebenso die Befugnis zur eigenverantwortlichen Führung der Geschäfte[83] und damit auch eine eigene Organisationshoheit.[84] Denn auch in der Entscheidung über die internen Zuständigkeiten, Arbeitsabläufe und Mittelzuteilungen verwirklichen sich die Vorstellungen der Gemeinde vom Gewicht und materiellen Gehalt der einzelnen Aufgaben.

Wie die anderen Gemeindehoheiten (Personalhoheit, Finanzhoheit, Planungshoheit) ist auch die Organisationshoheit nur "im Rahmen der Gesetze" garantiert. Was das bedeutet, arbeitete das Bundesverfassungsgericht jetzt anhand der Entwicklungsgeschichte der kommunalen Selbstverwaltung in Deutschland heraus, ließ sich dabei allerdings unübersehbar von dem Bestreben leiten, der heutigen Ausformung des Kommunalrechts gerecht zu werden: Wenn Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG den Gemeinden grundsätzlich die umfassende Zuständigkeit für alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft vorbehält, so bezieht sich das ausschließlich auf die sachlichen Aufgaben und nicht auf Fragen der kommunalen Organisation. Die Selbstverwaltungsgarantie enthält kein Prinzip der Eigenorganisation der Gemeinde, demgegenüber jede staatliche Vorgabe einer spezifischen Rechtfertigung bedürfte. Das Kommunalrecht setzt mit seinen zahlreichen Organisationsregelungen ersichtlich eine weitgehende Befugnis des Gesetzgebers (also des Staates) voraus, die Organisationsstrukturen nach seinen Vorstellungen zu bestimmen.[85]

Die Grenzen, die sich aus Art. 28 Abs. 2 GG ergeben, sind nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts mit der Einführung einer obligatorischen Gleichstellungsbeauftragten nicht überschritten. So ist zwar ein Kernbereich an Selbstverwaltung gegen jeglichen Eingriff absolut geschützt. Was die Organisationshoheit betrifft, verbietet das aber nur solche staatlichen Vorgaben, die eine eigenständige organisatorische Gestaltungsfähigkeit der Gemeinden im Ergebnis ersticken würden. Das wiederum läßt sich hinsichtlich der Verpflichtung zur Gleichstellungsbeauftragten, die sich von anderen im deutschen Kommunalrecht üblichen Vorgaben wie etwa der eines Rechnungsprüfungsamtes oder eines Ausländerbeirates nicht grundlegend unterscheidet, nicht feststellen.[86]

Im Vorfeld der Sicherung des Kernbereichs verpflichtet Art. 28 Abs. 2 GG den Gesetzgeber, den Gemeinden eine Mitverantwortung für die organisatorische Bewältigung ihrer Aufgaben einzuräumen. Er muß ihnen, so das Bundesverfassungsgericht, einen "hinreichenden organisatorischen Spielraum" bei der Wahrnehmung der einzelnen Aufgabenbereiche offenhalten.[87] Man hätte auch formulieren können, der Gesetzgeber dürfe den organisatorischen Spielraum nicht unangemessen (übermäßig) einschränken; einen solchen Bezug zum Verhältnismäßigkeitsprinzip vermied das Gericht jedoch offenbar bewußt.[88] Die vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Voraussetzungen erfüllen die gesetzlichen Bestimmungen zu den Gleichstellungsbeauftragten jedenfalls ohne weiteres: Sie überlassen es den Gemeinden, ob sie der Beauftragten ein eigenes Amt einrichten, ob sie weitere organisatorische Maßnahmen zur Gleichstellung von Männern und Frauen ergreifen und mit welchen personellen und sachlichen Mitteln sie die Beauftragte ausstatten. Vor allem aber verpflichten sie die Gemeinden nicht, der Gleichstellungsbeauftragten eigene Befugnisse zu verbindlicher Entscheidung zu übertragen, sondern lassen auch eine Beschränkung auf bloße Beratung und Stellungnahme zu. Damit verbleibt den Gemeinden durchaus ein hinreichender organisatorischer Spielraum für ihre eigene Gleichstellungspolitik.[89]

3) Finanzverfassung

Ein weiterer Beschluß vom 11. Oktober 1994[90] bereitete der langjährigen Subvention des deutschen Steinkohlebergbaus auf Kosten des Stromverbrauchers ein Ende. Das Gericht befand den sogenannten Kohlepfennig, eine öffentliche Abgabe, die alle Endverbraucher von elektrischem Strom als Aufschlag zum Strompreis entrichten mußten, für verfassungswidrig. Das Aufkommen aus der Abgabe floß nicht in den Staatshaushalt, sondern in einen Sonderfonds. Es war dazu bestimmt, den Einsatz von deutscher Steinkohle in der Elektrizitätswirtschaft sicherzustellen, um so eine krisensichere Quelle der Energieversorgung im eigenen Land zu erhalten.

Der Vorwurf der Verfassungswidrigkeit betraf nicht die Subvention des Steinkohlebergbaus als solche, sondern die Art und Weise ihrer Finanzierung. Der Kohlepfennig war weder Gebühr noch Beitrag, denn es fehlte ihm an jeglichem Bezug zu einer Gegenleistung des Staates. Der Kohlepfennig war aber auch keine Steuer, denn sein Ertrag gelangte von vornherein nicht in den Staatshaushalt. So, wie er konzipiert war, nämlich als eine Art wirtschaftsverwaltungsrechtlicher Ausgleichsabgabe, konnte er verfassungsrechtlich nur als sogenannte Sonderabgabe gerechtfertigt sein.

Die Finanzverfassung des Grundgesetzes erlaubt Sonderabgaben nur in engen Grenzen und nicht als allgemeines Mittel der staatlichen Einnahmebeschaffung. Sie geht davon aus, daß die Staatsaufgaben aus Steuern finanziert werden. Dies zeigt sich etwa in den Regelungen zur bundesstaatlichen Finanzordnung, die sich bei der Verteilung der Gesetzgebungs-, Ertrags- und Verwaltungskompetenzen an Bund und Länder von unwichtigen Ausnahmen abgesehen auf das Finanzierungsmittel der Steuer beschränken (vgl. Art. 105 ff. GG). Der Finanzierung öffentlicher Aufgaben durch Sonderabgaben, deren Aufkommen zunächst in Sonderfonds fließt, steht im übrigen der Grundsatz der Vollständigkeit des Haushaltsplans (Art. 110 GG) entgegen, der nicht nur sicherstellen soll, daß Einnahmen und Ausgaben vollständig den dafür vorgesehenen Planungs-, Kontroll- und Rechenschaftsverfahren unterworfen werden, sondern nach der Vorstellung des Bundesverfassungsgerichts auch den Grundsatz der Gleichheit der Bürger bei der Auferlegung öffentlicher Lasten aktualisiert.[91]

Das Bundesverfassungsgericht hatte bereits eine gefestigte Rechtsprechung entwickelt, nach der Sonderabgaben nur dann zulässig sind, wenn ein bestimmter Sachzweck über die Mittelbeschaffung hinaus verfolgt wird, die Sonderabgabe eine homogene gesellschaftliche Gruppe trifft, eine besondere Gruppenverantwortung für den Finanzierungszweck besteht und das Aufkommen aus der Abgabe gruppennützlich verwendet wird.[92] Diesen Anforderungen wurde der Kohlepfennig, wie das Gericht jetzt darlegte, nicht gerecht. Die mit der Abgabe belasteten Stromverbraucher bildeten keine in sich homogene Gruppe, sondern eine den Trägern von Verbrauchsteuern ähnliche Allgemeinheit von Betroffenen, die als solche keine besondere Finanzierungsverantwortlichkeit für den Einsatz von Steinkohle in der Stromerzeugung trage. Gemeinsam sei den Abgabeträgern nur der Stromverbrauch. Die bloße Nachfrage nach dem gleichen Wirtschaftsgut aber forme die Verbraucher nicht zu einer Gruppe, der die Finanzierung bestimmter struktur-, arbeitsmarkt- und energiepolitischer Sicherungen auferlegt werden dürfe. Der Erhalt des deutschen Steinkohlebergbaus und die Sicherstellung der Energieversorgung seien vielmehr Interessen der Allgemeinheit, die deshalb als Gemeinlasten - und damit durch das Mittel der Steuern - zu finanzieren seien.[93]

4) Einsatz der Bundeswehr

Zum Abschluß dieser Chronik soll das seinerzeit mit Spannung erwartete Urteil vom 12. Juli 1994[94] zur Beteiligung deutscher Streitkräfte an Aktionen der Vereinten Nationen, der NATO und der WEU und zu den Mitwirkungsrechten des Bundestages  bei der Entscheidung über militärische Einsätze vorgestellt werden. In diesem Urteil entschied das Bundesverfassungsgericht über mehrere Organklagen, mit denen die Bundesregierung wegen ihrer Beschlüsse zur Beteiligung der Bundeswehr an der Embargo-Überwachung in der Adria, an der Durchsetzung des Flugverbotes über Bosnien und an der Operation UNOSOM II in Somalia angegriffen worden war.[95] Ungewöhnlich war dabei allerdings, daß mit diesen Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht nicht nur ein Streit zwischen Regierung und Opposition, sondern gleichfalls ein Streit innerhalb der Bundesregierung ausgefochten wurde.[96]

Das Grundgesetz enthält eine Reihe von Vorkehrungen, die sicherstellen sollen, daß von deutschem Boden nie wieder eine Kriegsgefahr ausgeht. So drückt die Präambel den Willen des deutschen Volkes aus, "dem Frieden der Welt zu dienen". Über Art. 25 GG werden die allgemeinen Regeln des Völkerrechts zum Bestandteil des Bundesrechts. Art. 26 GG enthält ein allgemeines Verbot friedensstörender Handlungen, das weit über das Verbot eines Angriffskrieges hinausgeht. Nach Art. 24 Abs. 2 GG kann sich der Bund "zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnen" und "hierbei in die Beschränkungen seiner Hoheitsrechte einwilligen, die eine friedliche und dauerhafte Ordnung in Europa und zwischen den Völkern der Welt herbeiführen und sichern".

Was indessen fehlt, ist eine eindeutige Regelung der Voraussetzungen und der Verantwortung für den Einsatz der deutschen Streitkräfte, der Bundeswehr. Das Grundgesetz enthält in seinem Abschnitt über die Ausführung der Bundesgesetze und die Bundesverwaltung (also die Exekutive) einen Art. 87a GG, der zunächst in Absatz 1 anordnet, daß der Bund Streitkräfte zur Verteidigung aufstellt. In den Absätzen 3 und 4 ist geregelt, unter welchen Voraussetzungen diese Streitkräfte im Verteidigungsfall, im Spannungsfall oder zur Abwehr einer drohenden Gefahr für den Bestand des Bundes oder die freiheitliche demokratische Grundordnung innerhalb des deutschen Staatsgebietes eingesetzt werden dürfen. Schließlich gibt es einen Absatz 2, der besagt: "Außer zur Verteidigung dürfen die Streitkräfte nur eingesetzt werden, soweit dieses Grundgesetz es ausdrücklich zuläßt."

Art. 87a Abs. 2 GG ist ein Verfassungsvorbehalt für Streitkräfteeinsätze, die keine Verteidigungsmaßnahmen sind. Er macht es erforderlich, für alle Maßnahmen der Bundeswehr, die nicht unter den Begriff der Verteidigung fallen, nach einer Ermächtigung im Grundgesetz zu suchen, die sie "ausdrücklich zuläßt". Unklar ist jedoch, ob er sich - wie die Nähe zu Art. 87a Abs. 3 und 4 GG vermuten läßt - ausschließlich auf Einsätze im Innern oder auch auf Auslandseinsätze bezieht. Weder eine wortlautorientierte noch eine systematische Auslegung führen hier zu einem eindeutigen Ergebnis, und auch die verworrene Entstehungsgeschichte läßt keine sicheren Schlüsse zu. Unklar ist schließlich auch, ob der oben zitierte Art. 24 Abs. 2 GG als eine Bestimmung angesehen werden kann, die den Einsatz der Bundeswehr "ausdrücklich zuläßt". Der unterschiedliche Interpretationen gestattende Wortlaut und die unglückliche Systematik der Regelungen in Art. 87a und 24 GG führten schließlich dazu, daß in der Literatur tatsächlich alles umstritten war, was überhaupt umstritten sein konnte, und zwar sowohl die Anwendbarkeit des Art. 87a Abs. 2 GG auf Auslandseinsätze, als auch der Begriff des "Einsatzes" der Streitkräfte, der Begriff der "Verteidigung", der Begriff der "ausdrücklichen" Zulassung des Streitkräfteeinsatzes und der Begriff des "Systems kollektiver Sicherheit". Dazu kam die in den genannten Bestimmungen offen gelassene Frage, ob der grundsätzliche politische Entschluß, die Bundeswehr einzusetzen, der Bundesregierung oder dem Bundestag vorbehalten ist. Eine bis ins einzelne unangreifbare dogmatische Aufbereitung konnte angesichts dieser Regelungslage nicht erwartet werden. Das Bundesverfassungsgericht mußte zu den verfassungsrechtlichen Fragen eine Entscheidung treffen, weil das nach der Kompetenzordnung des Grundgesetzes seine Aufgabe war. Eine wirkliche Lösung des Problems läßt sich indessen nur auf dem politischen Weg einer klarstellenden Verfassungsänderung erzielen.

a) Die Beteiligung der Bundeswehr an den Aktionen von NATO, WEU und Vereinten Nationen ist nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts grundsätzlich mit dem Grundgesetz vereinbar. Sie findet ihre verfassungsrechtliche Grundlage in Art. 24 Abs. 2 GG, der mit der Ermächtigung zur Einordnung in ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit zugleich die Befugnis ausspricht, die Streitkräfte der Bundesrepublik bei allen Operationen einzusetzen, die im Rahmen und nach den Regeln dieses Systems stattfinden (aa). Um ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit im Sinne des Grundgesetzes handelt es sich nicht nur bei den Vereinten Nationen, sondern auch bei Systemen kollektiver Selbstverteidigung wie der NATO (bb). Art. 87a Abs. 2 GG steht Bundeswehreinsätzen, die sich auf Art. 24 Abs. 2 GG stützen lassen, von vornherein nicht entgegen (cc).

aa) Die Ermächtigung, sich zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einzuordnen, berechtige den Bund nicht nur zum Anschluß an ein solches System und zur Einwilligung in die damit verbundenen Beschränkungen der deutschen Hoheitsrechte. Sie biete vielmehr auch die verfassungsrechtliche Grundlage für die Übernahme der mit der Zugehörigkeit zu einem solchen System typischerweise verbundenen Aufgaben -  und damit auch für eine Verwendung der Bundeswehr zu Einsätzen, die im Rahmen und nach den Regeln dieses Systems stattfinden. Die völkerrechtliche Vereinbarung, die den Anschluß an das System bewirke, bedürfe nach Art. 24 Abs. 2 i.V.m. Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG der Zustimmung des Gesetzgebers. Die Zustimmung erstrecke sich dann auch auf eine Eingliederung von Streitkräften in integrierte Verbände des Systems oder eine Beteiligung von Soldaten an militärischen Aktionen des Systems unter dessen militärischem Kommando, soweit etwas Derartiges bereits im Gründungsvertrag oder in der Satzung des Systems angelegt sei.[97] - Der Bundeswehreinsatz in Somalia, in der Adria und über Bosnien hielt sich aber jedenfalls, wie das Bundesverfassungsgericht näher darlegte,[98] im Rahmen der üblichen mitgliedstaatlichen Beteiligung an den Maßnahmen der Vereinten Nationen bzw. der NATO.

bb) Systeme gegenseitiger kollektiver Sicherheit sind nach dem völkerrechtlichen Sprachgebrauch multilaterale Systeme der Friedenssicherung, die darauf beruhen, daß sich die beteiligten Staaten gegenseitig den Verzicht auf Gewaltanwendung sowie Hilfe für den Fall des Angriffs durch einen der Vertragspartner versprechen; Verteidigungsbündnisse gegen Angriffe Außenstehender fallen nicht darunter.[99] Ob der Begriff in Art. 24 Abs. 2 GG im gleichen Sinne zu verstehen ist, war umstritten. Jedenfalls aber ließ die Entstehungsgeschichte angesichts widersprüchlicher Äußerungen in den Debatten im Parlamentarischen Rat (der Versammlung, in der das Grundgesetz ausgearbeitet wurde) keine eindeutigen Schlüsse zu. Mit Rücksicht auf die Funktion des Art. 24 Abs. 2 GG, der Bundesrepublik den Zugang zu allen Systemen zu ermöglichen, die den Frieden sichern und gleichzeitig effektiven Schutz bieten, entschied sich das Bundesverfassungsgericht für eine weite Auslegung. Kennzeichen eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit im Sinne des Art. 24 Abs. 2 GG seien ein friedenssicherndes Regelwerk, der Aufbau einer eigenen Organisation und ein Status der Mitglieder, der zugleich durch völkerrechtliche Gebundenheit einerseits und ein Recht auf den Beistand der Vertragspartner andererseits geprägt werde. Ob das System ausschließlich oder vornehmlich unter den Mitgliedstaaten Frieden garantiere oder bei Angriffen von außen zum kollektiven Beistand verpflichte, sei unerheblich. Danach fallen auch Bündnisse kollektiver Selbstverteidigung unter den Begriff, sofern sie strikt auf die Friedenswahrung verpflichtet sind, und damit auch die NATO.[100]

cc) Art. 87a Abs. 2 GG soll den Rückgriff auf Art. 24 Abs. 2 GG als verfassungsrechtliche Grundlage für Bundeswehreinsätze nicht ausschließen. Das Gericht ließ die vielen im Zusammenhang mit Art. 87a Abs. 2 aufgetretenen und umstrittenen Fragen ausdrücklich offen, ließ aber doch duchblicken, daß es die Vorschrift wohl nur auf Einsätze im Innern anwenden will. Es gab letztlich einer historischen Auslegung den Vorzug, die maßgeblich darauf abstellt, daß Art. 87a GG erst 1956 in das Grundgesetz eingefügt und 1968 bei der Einführung der sogenannten Notstandsverfassung überarbeitet worden war. Der verfassungsändernde Gesetzgeber habe damals an der Zulässigkeit eines Streitkräfteeinsatzes nach Art. 24 Abs. 2 GG nichts ändern wollen. Maßgeblich sei vielmehr das Ziel gewesen, die Möglichkeiten für einen Einsatz der Bundeswehr im Innern durch das Gebot strikter Texttreue zu begrenzen.[101]

b) Das Grundgesetz verpflichtet die Bundesregierung jedoch, für jeden Einsatz bewaffneter Streitkräfte die konstitutive Zustimmung des Deutschen Bundestages einzuholen. Gestützt auf eine historische und systematische Auslegung entnimmt das Bundesverfassungsgericht dem Grundgesetz das "Prinzip eines konstitutiven Parlamentsvorbehalts". Der Parlamentsvorbehalt entspreche bereits seit 1918 der deutschen Verfassungstradition. Er habe sich erstmals mit dem Gesetz zur Abänderung der Reichsverfassung vom 28. Oktober 1918 gezeigt, das damals den Übergang zum parlamentarischen Regierungssystem vollzogen habe. Er sei mit Art. 45 Abs. 2 der Weimarer Reichsverfassung übernommen und 1956 mit dem bis zur Einführung der Notstandsverfassung (1968) geltenden Art. 59a Abs. 1 GG wiederaufgegriffen worden. Schließlich komme in mehreren Vorschriften des Grundgesetzes eine grundlegende Entscheidung für eine umfassende parlamentarische Kontrolle der Streitkräfte zum Ausdruck. Das Gericht nennt hier insbesondere Art. 45a (Verteidigungsausschuß des Bundestages), Art. 45b (Wehrbeauftragter des Bundestages), Art. 87a Abs. 1 Satz 2, wonach sich die zahlenmäßige Stärke der Streitkräfte und die Grundzüge ihrer Organisation aus dem Haushaltsplan ergeben müssen und Art. 87a Abs. 4 Satz 2 (Beendigung des Streitkräfteeinsatzes im Innern auf Verlangen von Bundestag oder Bundesrat).[102]

Der parlamentarischen Zustimmung bedarf nach dieser Entscheidung auch die Unterstützung von Aktionen des Sicherheitsrates, und zwar unabhängig von der Ausgestaltung der Kommandostrukturen und unabhängig davon, ob den Streitkräften Zwangsbefugnisse nach Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen eingeräumt sind. Eine differenzierende Behandlung der verschiedenen Einsatzformen von Friedenstruppen verbiete sich schon deshalb, weil die Grenzen zwischen traditionellen Blauhelm-Einsätzen und militärischen Sanktionsmaßnahmen in der Realität fließend geworden seien. Nur die Verwendung von Personal der Bundeswehr für Hilfsdienste und Hilfeleistungen im Ausland, bei denen die Soldaten nicht in bewaffnete Unternehmungen einbezogen würden, könne ohne Zustimmung erfolgen. - In dringenden Eilfällen dürfe die Bundesregierung vorläufig den Einsatz der Streitkräfte beschließen, müsse dann jedoch umgehend den Bundestag mit dem Einsatz befassen und die Streitkräfte zurückrufen, wenn der Bundestag es verlange.[103]

Das Bundesverfassungsgericht gab deutlich zu verstehen, daß es den Erlaß eines Gesetzes für sinnvoll hält, in dem Verfahren und Intensität der Beteiligung des Bundestages im einzelnen geregelt werden. Neben den Mindestanforderungen, denen das Gesetz gerecht werden müßte, nannte das Gericht auch die Grenzen der parlamentarischen Mitwirkung: Die Rechte des Bundestages erschöpfen sich in der Erteilung oder Versagung der Zustimmung; zum Einsatz von Streitkräften verpflichten kann er die Bundesregierung nicht.[104]

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[80]  Vgl. dazu bereits Epping, NJW 1992, 2605; Finanzgericht Kassel DVBl. 1985, 348; Verwaltungsgerichtshof Kassel DVBl. 1991, 52 und Bundesverwaltungsgericht (= BVerwG) NJW 1992, 2648.

[81]  BVerfGE 91, 148 (165 ff.)).

[82]  BVerfGE 91, 228; siehe dazu auch die Anmerkung von Schmidt-Jortzig, JZ 1995, 568.

[83]  Vgl. bereits BVerfGE 26, 228 (237 f.); 79, 127 (143).

[84]  Vgl. bereits BVerfGE 38, 258 (278 ff.); 52, 95 (117); 83, 363 (382).

[85]  BVerfGE 91, 228 (240).

[86]  BVerfGE 91, 228 (239, 242).

[87]  BVerfGE 91, 228 (241).

[88]  Auch an anderen Stellen in den Entscheidungsgründen wird deutlich, daß das Verhältnismäßigkeitsprinzip jedenfalls nicht ausdrücklich als Prüfungsmaßstab herangezogen werden sollte; siehe kritisch dazu Schmidt-Jortzig, JZ 1995, 568 f.

[89]  Vgl. BVerfGE 91, 228 (243 f.).

[90]  BVerfGE 91, 186; siehe auch die Anmerkung von Wilms NVwZ 1995, 550.

[91]  Vgl. BVerfGE 91, 186 (201 f.) im Anschluß an BVerfGE 82, 178 f.

[92]  Vgl. BVerfGE 55, 274 (298 ff.); 67, 256 (275 ff.); 82, 159 (179 ff.).

[93]  BVerfGE 91, 186 (205 f.).

[94]  BVerfGE 90, 286 [zweite Quelle]; siehe auch die Anmerkung von Arndt, NJW 1994, 2197 und Heun, JZ 1994, 1073.

[95]  Die Organklagen richteten sich außerdem gegen die Mitwirkung der Bundesregierung an den Entscheidungen innerhalb der NATO und der WEU, die der militärischen Unterstützung der Friedensmissionen der Vereinten Nationen durch diese Organisationen den Weg bereitet hatten. Die Antragsteller hatten geltend gemacht, es handele sich hier um eine Erweiterung des Aufgabenbereichs und damit um eine stillschweigende Änderung der Gründungsverträge, für die es auf deutscher Seite gemäß Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG der Zustimmung des Bundestages bedurft habe. Aufgrund von Stimmengleichheit im entscheidenden Senat konnte das Bundesverfassungsgericht eine Verletzung von Art. 59 Abs. 2 nicht feststellen (vgl. ausführlich zu den unterschiedlichen Auffassungen innerhalb des Gerichts BVerfGE 90, 286, 359 ff.).

[96]  Siehe dazu eingehend das abweichende Votum der Richter Böckenförde und Kruis zur Frage der Zulässigkeit des Antrags der FDP-Bundestagsfraktion (BVerfGE 90, 390 ff.). Die Fraktion der FDP - also einer der Regierungsparteien - machte vor dem Bundesverfassungsgericht in Prozeßstandschaft die Verletzung von Rechten des Bundestages geltend, nachdem sie zuvor im Bundestag keine Schritte gegen den Beschluß der Bundesregierung unternommen und sich auch einem entsprechenden Antrag der SPD-Fraktion nicht angeschlossen hatte. Anders als die Senatsmehrheit (vgl. BVerfGE 90, 286, 338 ff.) sahen die Richter Böckenförde und Kruis in dem Antrag der FDP eine unzulässige Instrumentalisierung des Organstreitverfahrens für Zwecke, die außerhalb seines Rechtsschutzzieles liegen. Das Organstreitverfahren sei nur die Einkleidung gewesen, um den politischen Konflikt über die Notwendigkeit einer Verfassungsänderung vor das Bundesverfassungsgericht zu bringen und so gewissermaßen durch ein - im Verfassungsprozeßrecht nicht vorgesehenes - Gutachten entscheiden zu lassen.

[97]  BVerfGE 90, 286 (345, 351).

[98]  Vgl. BVerfGE 90, 286 (351 ff., 378 ff.).

[99]  Vgl. Nguyen Quoc Dinh/Daillier/Pellet, Droit international public, 5. Aufl. 1994, Rdnr. 597; Beyerlin, Kollektive Sicherheit, in: Seidl-Hohenveldern (Herausgeber), Lexikon des Rechts, Völkerrecht, 2. Aufl. 1992, S. 171; Doehring, in: Isensee/Kirchhof (Herausgeber), Handbuch des Staatsrechts, Band VII, 1992, § 177 Rdnr. 3 mit weiteren Nachweisen; nach der hiervon abweichenden Ansicht von Randelzhofer, in: Maunz/Dürig (Herausgeber), Kommentar zum Grundgesetz, Band 2, Art. 24 Abs. II Rdnr. 11 ff. soll es sich nicht um einen eindeutigen allgemein anerkannten völkerrechtlichen Begriff handeln.

[100]  BVerfGE 90, 286 (348 ff.).

[101]  BVerfGE 90, 286 (355 ff.).

[102]  BVerfGE 90, 286 (381 ff.).

[103]  BVerfGE 90, 286 (387 f.).

[104]  BVerfGE 90, 286 (389).

 

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