Chronik der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts - 2003

01.10.05

(= ERPL/REDP 16 [2004], S. 1201 ff.)

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I. Vorbemerkung

[II. Grundrechte und grundrechtsgleiche Rechte] [III. Schutz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung]

Das Arbeitspensum des Bundesverfassungsgerichts lag 2003 auf dem Niveau der Vorjahre. Die Jahresstatistik[1] weist 4.735 Erledigungen aus (davon 4.549 durch Entscheidung[2]). Die Verfassungsbeschwerden dominierten mit 4.434 Entscheidungen, (davon 21 durch die Senate und 4.413 durch die Kammern). Ihnen folgten die Verfahren der konkreten Normenkontrolle (16 Entscheidungen). Eine seltene Besonderheit[3] bildete der Abschluß eines Parteiverbotsverfahrens nach Art. 21 Abs. 2 S. 2 GG. Er erfolgte allerdings nicht durch Entscheidung in der Sache sondern durch Einstellung des Verfahrens.

Aus dogmatischer Sicht war die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts[4] in diesem Jahr wenig ergiebig. Hervorzuheben sind eine unzureichend begründete Ausdehnung der Grundrechtsträgerschaft öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten auf andere Grundrechte als die Rundfunkfreiheit sowie die vorsichtige Einbeziehung des biologischen Vaters (leiblicher aber nicht ehelicher Vater ohne rechtliche Vaterstellung) in den Schutz der Grundrechte aus Art. 6 Abs. 1 und 2 GG (Schutz der Familie und Elternrecht bzw. Möglichkeit, dieses zu erlangen). Außerdem traf das Gericht mit seinem Urteil zum Kopftuchverbot für Lehrerinnen an den staatlichen Schulen eine vielbeachtete Entscheidung zu einem auch in anderen europäischen Staaten aktuellen gesellschaftlichen Thema. Der dogmatische Ertrag des Urteils ist wegen einiger Unklarheiten gering. Die Argumentationsstränge des Gerichts (sowie einiger Richter in ihrer abweichenden Meinung) und die vielen angesprochenen Aspekte machen es aber gerade für die Rechtsvergleichung interessant.

II. Grundrechte und grundrechtsgleiche Rechte

[I. Vorbemerkung] [III. Schutz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung]

1) Öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten als Grundrechtsträger

In einem Urteil vom 12. März 2003 zum Schutze der Vertraulichkeit der Telefonverbindungsdaten von Journalisten [5] erkannte das Bundesverfassungsgericht erstmals an, daß die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten über die Rundfunkfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG) hinaus Träger von Grundrechten sein können. Grundsätzlich sind die Grundrechte ihrem Wesen nach nicht auf juristische Personen des öffentlichen Rechts anwendbar, denn diese sind Teil der öffentlichen Gewalt und damit Adressaten und nicht Berechtigte der Grundrechte.[6] Beschränkte Ausnahmen gelten allerdings für solche juristischen Personen, die spezifisch einem durch bestimmte Grundrechte geschützten Lebensbereich zugordnet sind und im Rahmen ihrer auf diesen Lebensbereich bezogenen Funktion unabhängig vom Staat fungieren.[7] So hatte das Bundesverfassungsgericht bereits früh anerkannt, daß die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten Träger des Grundrechts der Rundfunkfreiheit sind.[8] Andere Grundrechte sollten sie aber nicht geltend machen können.[9] Jetzt entschied das Gericht mit knapper Begründung, daß sie sich jedenfalls zum Schutze der Vertraulichkeit der Informationsbeschaffung und der Redaktionsarbeit auf das Fernmeldegeheimnis (Art. 10 GG) und zu dessen Verteidigung auch auf die Rechtsschutzgarantie (Art. 19 Abs. 4 GG) berufen können. Die Grundrechtsberechtigung der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten folge aus der Wahrnehmung des Grundrechts der Rundfunkfreiheit. Soweit aber ein Verhalten, das die Ausübung der Rundfunkfreiheit unterstütze, in einer anderen Grundrechtsnorm geschützt sei, erstrecke sich die Grundrechtsträgerschaft auch auf dieses Grundrecht. Ein solcher funktioneller Zusamenhang bestehe zwischen dem Fernmeldegeheimnis und der Rundfunkfreiheit.[10] Die in der Verfassungsrechtsprechung noch nicht geklärte Frage, ob auch juristische Personen des öffentlichen Rechts allgemein nach Art. 19 Abs. 4 GG effektiven Rechtsschutz gegen die [andere] öffentliche Gewalt verlangen können, ließ das Gericht weiterhin offen: Jedenfalls soweit sie sich auf materielle Grundrechte berufen könnten, stehe ihnen der Schutz des Art. 19 Abs. 4 GG zu.[11]

Die Ausdehnung der Grundrechtsträgerschaft auf andere Grundrechte als die Rundfunkfreiheit mag im Zusammenhang des Urteils plausibel erscheinen (es ging um den Zugriff der Strafverfolgungsbehörden auf die Telefonverbindungsdaten von Fernsehjournalisten, um Erkenntnisse über den Aufenthaltsort eines gesuchten Wirtschaftsstraftäters zu erlangen, über den die Journalisten recherchierten). Sie bedeutet aber eine Abkehr von der bisherigen Linie, die eingehend hätte begründet werden müssen und im übrigen nicht notwendig war. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichts umfaßt die Rundfunkfreiheit alle wesensmäßig mit der Veranstaltung von Rundfunk zusammenhängenden Tätigkeiten von der Beschaffung der Information bis zur Verbreitung der Nachricht und Meinung.[12] Sie schützt damit auch das Vertrauensverhältnis zwischen einer öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt und ihren Informanten, weswegen in der Entscheidung auch eine Verletzung dieses Grundrechts geprüft wird.[13] Ein Rückgriff auf das Grundrecht der Fernmeldefreiheit war daher nicht geboten, zumal dieses keinen im Verhältnis zur Rundfunkfreiheit weitergehenden Schutz gewährt. Das vom Bundesverfassungsgericht angewandte Kriterium, ob das in anderen Grundrechten geschützte Verhalten die Ausübung der Rundfunkfreiheit unterstützt, läßt zudem eine präzise Bestimmung derjenigen Grundrechte, auf die sich die öffentlich-rechtlichen Anstalten potentiell stützen können, und der Fallgruppen, bei denen das so ist, nicht zu. Insbesondere bestehen Zweifel, ob nach diesem Kriterium noch die Berufung auf das Eigentumsgrundrecht (Art. 14 GG) verwehrt werden kann. Wenn aber den Rundfunkanstalten im Interesse der Rundfunkfreiheit die Berufung auf das Eigentumsgrundrecht gestattet wird, stellt sich die Frage, warum das bei den Gemeinden, die durch die Selbstverwaltungsgarantie des Art. 28 Abs. 2 GG geschützt werden, anders sein sollte. Eine Wende in dieser Frage ist indessen auf dem Boden der bisherigen Grundrechtsdogmatik kaum vorstellbar. Sollte das Bundesverfassungsgericht bei seiner neuen Linie bleiben, sind also noch einige Ungereimtheiten auszuräumen.

2) Glaubensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG), gleicher Zugang zu öffentlichen Ämtern (Art. 33 Abs. 2 GG) und Verbot der Benachteiligung wegen des Bekenntnisses bei der Zulassung zu öffentlichen Ämtern (Art. 33 Abs. 3 GG)

[1995] [2002]

Ein Urteil vom 24. September 2003[14] bedeutete eine Zäsur im Streit[15] um das Kopftuchverbot für Lehrerinnen. Wie in anderen europäischen Staaten [16] stellt sich auch in Deutschland die Frage, ob muslimischen Lehrerinnen an den staatlichen Schulen das Tragen von Kopftüchern untersagt werden soll, um die religiös-weltanschauliche Neutralität der Schule zu wahren. Die Frage ist erst in den letzten Jahren aktuell geworden, nachdem mehr und mehr ausländische Mitbürger die deutsche Staatsangehörigkeit angenommen haben und damit mehr Bürger islamischen Glaubens eine Beamtenstellung im öffentlichen Dienst anstreben, die nach dem Beamtenrecht[17] grundsätzlich den Deutschen und EU-Bürgern vorbehalten ist. In dem zugrundeliegenden Fall hatte das Land Baden-Württemberg eine Bewerberin für das Lehramt als ungeeignet abgelehnt, weil sie aus religiösen Gründen nicht bereit war, während des Unterrichts auf das Tragen eines Kopftuches zu verzichten. Das Bundesverfassungsgericht stellte eine Verletzung der Bewerberin "in ihren Rechten aus Artikel 33 Abs. 2 in Verbindung mit Artikel 4 Absatz 1 und 2 und mit Artikel 33 Absatz 3 des Grundgesetzes" fest.[18] Ausschlaggebend war das Fehlen einer hinreichend bestimmten, also spezifischen gesetzlichen Grundlage für das Kopftuchverbot. Das Verbot ist nicht von vornherein unzulässig, muß aber von den Gesetzgebern in den Ländern besonders und unter Beachtung der aus Art. 33 Abs. 2, 3 und Art. 4 Abs. 1, 2 GG hergeleiteten verfassungsrechtlichen Vorgaben geregelt werden. Über die nähere Bestimmung dieser Vorgaben wird jetzt in der politischen und wissenschaftlichen Diskussion gerungen, nachdem die meisten Länder die Arbeit an einer gesetzlichen Regelung aufgenommen haben.[19] Viele dieser Regelungen werden ihrerseits vor dem Bundesverfassungsgericht angegriffen werden. Weitere Entscheidungen sind daher mit Sicherheit zu erwarten.

a) Die erste Hürde des Falles lag bereits darin, das einschlägige Grundrecht zu bestimmen. Zunächst war an eine Verletzung der Glaubensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) zu denken. Diese umfaßt auch das Recht des Einzelnen, sein gesamtes Verhalten an den Lehren seines Glaubens auszurichten und seiner inneren Glaubensüberzeugung gemäß zu handeln[20]. Hier war die Bewerberin nur deswegen abgelehnt worden, weil sie auch im Arbeitsalltag in der Schule die Bekleidungsvorschriften ihres Glaubens befolgen wollte. In Betracht kam aber auch eine Verletzung des grundrechtsgleichen[21] Rechts auf gleichen Zugang zu allen öffentlichen Ämtern aus Art. 33 Abs. 2 GG. Es handelt sich dabei um einen speziellen Gleichheitssatz, der als lex specialis den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) verdrängt. Danach hat die Auswahl zwischen verschiedenen Bewerbern für öffentliche Ämter durch eine sogenannte Bestenauslese nach den Kriterien der Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung - und nicht nach den religiösen Anschauungen - zu erfolgen. Hier bestanden an der pädagogischen Qualifikation der muslimischen Lehrerin keine Zweifel; ihre Eignung war ausschließlich wegen des religiös bedingten Kopftuchtragens verneint worden. Schließlich konnte hier der spezielle Gleichheitssatz in Art. 33 Abs. 3 GG verletzt sein. Danach ist die Zulassung zu öffentlichen Ämtern unabhängig von dem religiösen Bekenntnis; niemandem darf aus seiner Zugehörigkeit zu einem Bekenntnis oder einer Weltanschauung ein Nachteil erwachsen.[22]

Das sorgfältige Herausschälen der verfassungsrechtlichen Fragestellung, die exakte Zuordnung zu einem oder mehreren dieser Grundrechte und die säuberlich getrennte Prüfung der Verletzung der einzelnen Grundrechte unter genauer Herausarbeitung und dogmatischer Einordnung der zu berücksichtigenden Querbezüge wäre die erste wichtige Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts gewesen. Die exakte Trennung und Verortung der einzelnen Fragen war insbesondere deswegen wichtig, weil es sich bei der Glaubensfreiheit um ein Freiheitsrecht, bei den Rechten aus Art. 33 Abs. 2 und 3 aber um Gleichheitsrechte handelt - also um Rechte verschiedener Kategorien, für die eine unterschiedliche Dogmatik und ein unterschiedlicher Prüfungsaufbau gelten.[23] Das Gericht überraschte indessen mit der nebelhaften Formulierung, die Lehramtsbewerberin sei "in ihren Rechten aus Artikel 33 Absatz 2 in Verbindung mit Artikel 4 Absatz 1 und 2 und mit Artikel 33 Absatz 3 des Grundgesetzes" verletzt.[24] In der Begründung nahm es darüber hinaus undeutlich auf das Grundrecht der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) Bezug.[25] Hier bleibt unklar, welches Recht verletzt sein soll: das Gleichheitsrecht aus Art. 33 Abs. 2, das Freiheitsrecht aus Art. 4 Abs. 1 und 2, das Gleichheitsrecht aus Art. 33 Abs. 3, alle Rechte zusammen? Oder wollte das Bundesverfassungsgericht ein neues Recht in die Grundrechtsdogmatik einführen, welches den Schutz nach Art. 33 Abs. 2 mit dem nach Art. 4 Abs. 1 und 2 und 33 Abs. 3 kombiniert? Die Formulierung "in Verbindung mit" spricht dafür,[26] die Tatsache, daß keine Bezeichnung für das neue Recht genannt wird, spricht dagegen. Im übrigen deutet der Umstand, daß das Gericht in den Entscheidungsgründen in verschieden nummerierten Abschnitten prüft und bejaht, daß die einzelnen Rechte berührt sind,[27] darauf hin, daß es im Ergebnis von einem Verstoß gegen alle genannten Rechte ausgeht.

b) Trotz dieser Unklarheit lassen sich dem Urteil vom 24. September 2003 einige Aussagen zu den einzelnen Rechten entnehmen. Was den gleichen Zugang zu öffentlichen Ämtern (Art. 33 Abs. 1 GG) betrifft, erinnerte das Gericht daran, daß die Wertentscheidungen der Verfassung, insbesondere die Grundrechte, das gesetzgeberische Ermessen bei der Wahl der Eignungskriterien für die Bestenauslese begrenzen. Die Grundrechte gelten auch im Beamtenverhältnis. Ihrer Ausübung im Dienst können Grenzen gesetzt werden, die sich aus allgemeinen Anforderungen an den öffentlichen Dienst oder aus besonderen Erfordernissen des jeweiligen Amtes ergeben. Wird indessen schon der Zugang zu einem Amt im Hinblick auf ein zukünftiges Verhalten des Bewerbers verweigert, das als solches grundrechtlich geschützt ist, muß sich die Annahme mangelnder Eignung vor dem betroffenen Grundrecht rechtfertigen lassen. Dienstpflichten, deren Erfüllung erwartet wird, müssen gesetzlich hinreichend bestimmt sein und die Grundrechte des Beamten achten.[28] Dies gilt auch für eine den Lehrern auferlegte Pflicht, die eigene Religionszugehörigkeit nicht im Unterricht durch Befolgen religiöser Bekleidungsregeln deutlich werden zu lassen.[29] Hinsichtlich des Verbotes der Benachteiligung wegen des Bekenntnisses bei der Zulassung zu öffentlichen Ämtern (Art. 33 Abs. 3 GG) hob das Gericht hervor, daß damit auch ausgeschlossen wird, den Zugang zu Ämtern aus Gründen zu verwehren, die mit der Glaubensfreiheit (Art. 4 Abs. 1, 2 GG) unvereinbar sind.[30] Dies schließt die Begründung von Dienstpflichten, die in die Glaubensfreiheit eingreifen, nicht aus, unterwirft sie aber den Rechtfertigungsanforderungen dieses Grundrechts.[31]

Die Richter Jentsch, Di Fabio und Mellinghoff vertraten in ihrer abweichenden Meinung [32] einen entgegengesetzten Grundansatz. Danach ist der Grundrechtsschutz für Beamte funktionell begrenzt. In Ausübung ihres Amtes komme ihnen der durch die Grundrechte verbürgte Freiheitsanspruch gegen den Staat von vornherein nur insoweit zu, als sich aus dem besonderen Funktionsvorbehalt des öffentlichen Dienstes keine Einschränkungen ergäben. Gehe es um den Zugang zu einem öffentlichen Amt, gebe es dementsprechend keine offene Abwägungssituation gleichwertiger Rechtsgüter.

Im Mittelpunkt stand nach dem Lösungsweg des Bundesverfassungsgerichts die Glaubensfreiheit der Lehramtsbewerberin, die im Unterricht ein Kopftuch tragen wollte. Sie war berührt, wenn das Kopftuchtragen tatsächlich einem religiösen Gebot entsprach. Ob und inwieweit der islamische Glaube den Frauen die Verschleierung vorschreibt, ist in der islamischen Welt umstritten. Nach Ansicht des Gerichts kommt es auf diesen theologischen Streit aber nicht an. Zwar darf bei der Würdigung eines religiös begründeten Verhaltens nicht nur auf das subjektive Verständnis des Einzelnen abgestellt werden, sondern muß auch das Selbstverständnis der jeweiligen Religionsgemeinschaft berücksichtigt werden.[33] Eine islamisch-religiös begründete Glaubensregel, welche Frauen zum Tragen eines Kopftuches in der Öffentlichkeit verpflichtet, läßt sich aber mit hinreichender Plausibilität annehmen; das Bundesverfassungsgericht folgte hier der Einschätzung der Instanzgerichte.[34] Damit kam es jetzt darauf an, ob der Eingriff in den Schutzbereich der Glaubensfreiheit durch die Schranken des Grundrechts verfassungsrechtlich gerechtfertigt war. Das setzte voraus, daß die Wahrnehmung der Glaubensfreiheit im konkreten Fall mit Grundrechten Dritter oder anderen Werten von Verfassungsrang kollidierte und sich im Rahmen einer Abwägung als nachrangig erwies.[35]

Die Verfassungswerte, die einem religiös geprägten Verhalten des Lehrers in einer staatlichen Schule entgegenstehen können, waren aus der Kruzifix-Entscheidung von 1995[36] bekannt. Es sind dies die Verpflichtung des Staates zur Wahrung der religiös-weltanschaulichen Neutralität[37], das Recht der Eltern zur Kindeserziehung in religiöser und weltanschaulicher Hinsicht[38] und die vom Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG mitumfaßte negative Glaubensfreiheit der Schüler. Im Hinblick auf das elterliche Erziehungsrecht erinnerte das Gericht daran, daß dieses nicht ausschließlich ist; auch der Staat hat aus Art. 7 Abs. 1 GG einen Erziehungsauftrag. Was die negative Glaubensfreiheit der Schüler betrifft, die mit einer kopftuchtragenden staatlichen Lehrerin konfrontiert würden, räumte es ein, daß die Glaubensfreiheit nicht das Recht gewährt, von fremden Glaubensbekundungen verschont zu bleiben. Es kann aber anders zu beurteilen sein, wenn der Einzelne in einer vom Staat geschaffenen Lage ohne Ausweichmöglichkeit dem Einfluß eines bestimmten Glaubens und seiner Manifestationen ausgesetzt ist.[39]

Ausführlicher behandelte das Gericht die Frage der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates. Der Staat des Grundgesetzes ist gekennzeichnet von der Offenheit gegenüber der Vielfalt weltanschaulich-religiöser Überzeugungen und gründet dies auf ein Menschenbild, das von der Würde des Menschen und der freien Entfaltung der Persönlichkeit in Selbstbestimmung und Eigenverantwortung geprägt ist.[40] Seine Neutralität ist aber nach Auffassung des Gerichts nicht als eine distanzierende im Sinne einer strikten Trennung von Staat und Kirche zu verstehen, sondern als eine offene und übergreifende, die Glaubensfreiheit für alle Bekenntnisse gleichermaßen fördernde Haltung. Art. 4 Abs. 1 und 2 GG gebiete auch im positiven Sinn, den Raum für die aktive Betätigung der Glaubensüberzeugung und die Verwirklichung der autonomen Persönlichkeit auf weltanschaulich-religiösem Gebiet zu sichern. Der Staat dürfe lediglich keine gezielte Beeinflussung im Dienste einer bestimmten Richtung betreiben oder sich durch ihm zuzurechnende Maßnahmen mit einem bestimmten Glauben oder einer bestimmten Weltanschauung identifizieren und dadurch den religiösen Frieden in der Gesellschaft gefährden.[41] Diese Passage ist nicht ungefährlich, denn man könnte sie als den Versuch einer Umdeutung der staatlichen Neutralität von einer echten religiös-weltanschaulichen Neutralität zu einer grundsätzlich religionsfreundlichen Pseudo-Neutralität mißverstehen, die im Grundgesetz keine Stütze fände. Das Gericht unterläßt es klarzustellen, daß der Staat auch nicht abstrakt pro-religiös beeinflussen darf. Eine "fördernde Haltung" gegenüber Glaubensbekenntnissen kann nur dann mit der Neutralitätspflicht vereinbar sein, wenn die Förderung auch "atheistische Bekenntnisse" sowie die Ablehnung von Bekenntnissen schlechthin miteinbezieht. Daraus ergeben sich Folgerungen für den Bereich der Schule. Nach Ansicht des Gerichts sind christliche Bezüge hier nicht schlechthin verboten; die Schule müsse aber auch für andere weltanschauliche und religiöse Inhalte und Werte offen sein. In dieser Offenheit bewahre der freiheitliche Staat des Grundgesetzes seine religiöse und weltanschauliche Neutralität.[42] Doch echte Neutralität fordert mehr, als daß der Staat im Unterricht neben christlichen Bezügen auf andere Religionen oder Weltanschauungen hinweist. Zur Neutralität gehört auch, daß er christliche wie andere Glaubens- oder Weltanschauungselemente unmißverständlich nur referiert und nicht propagiert. Das verbietet die amtliche Ausstattung von Klassenräumen mit Kruzifixen.[43] Ebenso dürfte es einer schulischen Praxis entgegenstehen, bei der ein religiös geprägtes Verhalten der Lehrer nach den Gesamtumständen den Eindruck erweckt, daß sich die Schule und damit die öffentliche Hand mit den betreffenden Glaubensinhalten - oder auch nur mit dem Glauben an sich - identifiziert.

c) Es obliegt dem Gesetzgeber, Spannungsverhältnisse zwischen der positiven Glaubensfreiheit der Lehrerinnen und den entgegenstehenden Verfassungswerten zu lösen.[44] Das Bundesverfassungsgericht ging davon aus, daß ein solches Spannungsverhältnis "unvermeidlich" sei. Diese Zuspitzung erscheint voreilig, denn schließlich können die Schulen durch spezielle Verhaltensregeln für die kopftuchtragenden Lehrerinnen, klarstellende Hinweise der Schulleitung, einführende Gespräche mit den Schülern und Eltern und andere vorsorgliche Maßnahmen gezielt jedem Rückschluß von dem religiös bedingten persönlichen Verhalten der Lehrerin auf eine bestimmte Haltung oder Stellungnahme der Schule oder des Staates entgegenwirken. Besteht kein Zweifel daran, daß das Kopftuch nur die persönliche Haltung der Lehrerin reflektiert, und wird seine Wirkung auf die Umwelt nicht durch religiöse Äußerungen im Unterricht flankiert, ist es nicht anders als das Kopftuch einer muslimischen Schülerin zu beurteilen. Eine Beeinflussung der Schüler durch den Lehrer in seiner Eigenschaft als Lehrer findet dann nicht statt. Das elterliche Erziehungsrecht und die negative Glaubensfreiheit sind damit nicht berührt. Die staatliche Neutralität ist nicht verlassen, da das eindeutig persönliche Verhalten des Lehrers dem Staat nicht als eigene religiöse Stellungnahme anzurechnen ist. Hier liegt ein wesentlicher Unterschied zwischen dem persönlichen Tragen eines Kopftuches, einer Nonnentracht oder eines Kreuzes als Halsschmuck und der amtlichen Anbringung eines Kruzifixes im Schulgebäude.[45]

Das Bundesverfassungsgericht berücksichtigte diesen Umstand allerdings auf andere Weise. Es arbeitete heraus, daß die bloße Möglichkeit einer Schülerbeeinflussung und die bloße Möglichkeit von Konflikten lediglich abstrakte Gefahren darstellen, die nicht mit der Lage bei einem konkreten Versuch der Beeinflussung oder gar Missionierung der anvertrauten Schüler gleichzusetzen ist. Soll schon die Schaffung solcher abstrakter Gefahren als Verletzung beamtenrechtlicher Pflichten oder Eignungsmangel bewertet werden, setzt dies, weil damit eine Einschränkung der Glaubensfreiheit einhergeht, eine hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage voraus.[46] Diese war in Baden-Württemberg nicht vorhanden. Aus den allgemeinen Regelungen zum Begriff der Eignung und zu den Pflichten der Beamten im Landesbeamtengesetz und aus den Vorschriften im Schulgesetz ließ sich nach Ansicht der Senatsmehrheit ein grundrechtsbeschränkendes Verbot, als Lehrerin aus religiösen Gründen ein Kopftuch zu tragen, nicht herleiten, auch nicht aus dem beamtenrechtlichen Zurückhaltungs- und Mäßigungsgebot.[47] Für die Richter Jentsch, Di Fabio und Mellinghoff war jenes Gebot hingegen einschlägig. Sie sahen eine hinreichende Grundlage allerdings bereits in Art. 33 Abs. 5 GG, der den Beamten mit dem Verweis auf die hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums eine verfassungsrechtliche allgemeine Dienstpflicht zur Mäßigung und Zurückhaltung auferlegt. Diese korrespondiere mit der Pflicht des Staates zur Wahrung der religiös-weltanschaulichen Neutralität.[48]

Schon vor dem Urteil vom 23. September 2003 bestanden keine Zweifel daran, daß Einschränkungen der Glaubensfreiheit nur auf gesetzlicher Grundlage zulässig sind. Zwar enthält Art. 4 GG keine Schrankenbestimmung und statuiert damit auch keinen speziellen grundrechtlichen Gesetzesvorbehalt. Das Erfordernis ergibt sich aber aus dem allgemeinen Grundsatz des Vorbehaltes des Gesetzes.[49] Dieser wird häufig aus Art. 20 Abs. 3 GG (Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, Rechtsstaatsprinzip) hergeleitet, läßt sich aber auch auf das Demokratieprinzip stützen. Er verlangt, daß alle für das Zusammenleben im Staate wesentlichen Entscheidungen vom Gesetzgeber getroffen werden (sogenannte Wesentlichkeitstheorie des Bundesverfassungsgerichts).[50] Wann es danach einer (besonderen) gesetzlichen Regelung bedarf, läßt sich nur im Blick auf den jeweiligen Sachbereich und die Eigenart des betroffenen Regelungsgegenstandes beurteilen. Für die Begründung einer Dienstpflicht der Lehrer, im Unterricht auf das Tragen eines Kopftuches oder anderer religiöser Erkennungsmerkmale zu verzichten, ist dies nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts jedenfalls der Fall. Eine solche Regelung greift in erheblichem Maße in die Glaubensfreiheit der Betroffenen ein. Außerdem betrifft sie die Anhänger verschiedener Religionen unterschiedlich intensiv, je nachdem, ob sie Bekleidungsvorschriften unterliegen oder nicht, und hat deswegen Ausschlußwirkung für bestimmte Gruppen. Wegen dieses Gruppenbezuges kommt ihr über ihre Bedeutung für die individuelle Grundrechtsausübung hinaus auch hinsichtlich der "gesellschaftlichen Ordnungsfunktion der Glaubensfreiheit" wesentliche Bedeutung zu.[51]

d) Das Gericht sprach schließlich verschiedene Aspekte an, die bei einer gesetzlichen Regelung zu berücksichtigen sind. Dazu gehört, daß das Kopftuch anders als das christliche Kreuz nicht aus sich heraus ein religiöses Symbol darstellt, sondern erst im Zusammenhang mit der Person, die es trägt, und mit deren sonstigem Verhalten eine vergleichbare Wirkung entfalten kann. Das Gericht erinnerte auch daran, daß das Kopftuch im Islam für unterschiedliche Aussagen und Wertvorstellungen stehen kann und nicht etwa allgemein ein politisches Symbol des islamischen Fundamentalismus darstellt. Insbesondere darf die Deutung des Kopftuches nicht auf ein Zeichen gesellschaftlicher Unterdrückung der Frau verkürzt werden. Es läßt sich also nicht allein vom Tragen eines Kopftuches darauf schließen, daß die Trägerin als Lehrerin etwa muslimischen Schülerinnen die Entwicklung eines den Wertvorstellungen des Grundgesetzes entsprechenden Frauenbildes oder dessen Umsetzung im eigenen Leben erschweren würde.[52]

Der Gesetzgeber muß ferner beachten, daß das Kopftuchtragen der Lehrerin nicht ohne weiteres dem Staat als eigene Äußerung zuzurechnen ist. Das Dulden religiös motivierter Kleidung von Lehrern, die diese aufgrund eigener, individueller Entscheidung tragen, kann nicht mit der staatlichen Anordnung, religiöse Symbole in der Schule anzubringen, gleichgesetzt werden. Das Gericht ging auch darauf ein, daß das Kopftuchtragen deswegen auf die Schüler wirken kann, weil sie während des gesamten Unterrichts ohne Ausweichmöglichkeit mit der im Mittelpunkt stehenden Lehrerin konfrontiert sind: Die Lehrerin könne die religiöse Aussage des Kleidungsstückes differenziert erläutern und dadurch in ihrer Wirkung abschwächen.[53] Es ist also nicht ausgeschlossen, daß die Lehrerin ihr Verhalten erklärt - doch nicht zur religiösen Beeinflussung der Schüler sondern zur Relativierung des eigenen Verhaltens, um eine ungewollte religiöse Beeinflussung gerade zu vermeiden.

Mit einem "Fingerzeig"[54] nahm das Gericht schließlich dazu Stellung, daß die deutsche Gesellschaft kulturell und religiös heterogener wird: Der mit der zunehmenden religiösen Pluralisierung verbundene gesellschaftliche Wandel kann für den Gesetzgeber Anlaß zu einer Neubestimmung des zulässigen Ausmaßes religiöser Bezüge in der Schule sein. Insoweit sind durchaus Einschränkungen der Glaubensfreiheit durch einschlägige Regelungen in den Schulgesetzen denkbar. Die Schule ist der Ort, an dem die unterschiedlichen religiösen Auffassungen unausweichlich aufeinandertreffen und wo sich ihr Nebeneinander besonders empfindlich auswirkt. Manches spricht dafür, die zunehmende religiöse Vielfalt in der Schule aufzunehmen und zur Einübung gegenseitiger Toleranz zu nutzen, um die gesellschaftliche Integration zu fördern. Es gibt aber auch Gründe dafür, in einem strengeren Neutralitätsverständnis auch durch das äußere Erscheinungsbild des Lehrers vermittelte religiöse Bezüge fernzuhalten, um Konflikte von vornherein zu vermeiden. Das Bundesverfassungsgericht betonte den Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers - er darf die Entscheidung nur nicht der Exekutive oder den Gerichten überlassen.[55]

 Insgesamt ist der dogmatische Ertrag des Urteils trotz seiner ausführlichen Begründung gering. Das Urteil läßt zudem nur undeutlich einen "roten Faden" erkennen und provoziert mit seinen Unklarheiten Mißverständnisse. Das verletzte Grundrecht wird nicht eindeutig angegeben. Die Voraussetzungen eines Spannungsverhältnis zwischen der positiven Glaubensfreiheit des Lehrers einerseits und der Neutralitätspflicht des Staates, dem Erziehungsrecht der Eltern und der negativen Glaubensfreiheit der Schüler andererseits werden nicht präzise herausgearbeitet. Die prinzipielle Beschränktheit der Grundrechtsausübung im Beamtenverhältnis wird nur am Rande berücksichtigt. Die Kernaussage, daß es zur Beschränkung religiös motivierter Elemente im äußeren Erscheinungsbild der Lehrer einer besonderen gesetzlichen Regelung bedarf, erscheint im Hinblick auf die vorgebrachten Argumente (erheblicher Eingriff, Ausschlußwirkung für bestimmte Gruppen und damit einhergehende gesellschaftliche Bedeutung) plausibel. Doch es bleibt offen, wie konkret diese Regelung ausfallen muß. Das Urteil stellt also nur einen Zwischenschritt dar. Erst mit der verfassungsgerichtlichen Überprüfung der jetzt entstehenden landesgesetzlichen Regelungen werden die verfassungsrechtlichen Probleme eines Kopftuchverbotes für muslimische Lehrerinnen abschließend geklärt.

3) Meinungsfreiheit und Pressefreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 1 und 2 GG)

[1994] [1995] [1996] [1997] [2000]

In einer Entscheidung vom 11. März 2003 [56] hat das Bundesverfassungsgericht seine Rechtsprechung von 2000 [57] zum Verbot von Schockwerbung in der Presse fortgeführt. Der Bundesgerichtshof hatte das Verbot einer Werbeanzeige der Firma Benetton in einer Illustrierten, in der ein menschliches Gesäß mit dem Stempel "H.I.V. positive" abgebildet war, erneut wegen Verstoßes gegen die guten Sitten (§ 1 des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb [damalige Fassung]) bestätigt. Er war nunmehr davon ausgegangen, daß die Anzeige selbst keine diskriminierende Aussage über AIDS-Kranke mache, sondern die Wertung dem Betrachter überlasse. Sie verletze die Menschenwürde aber deshalb, weil sie die Darstellung der Not von AIDS-Kranken in einer Unternehmenswerbung als Reizobjekt zur Erweckung von Aufmerksamkeit mißbrauche. Das Bundesverfassungsgericht wandte sich auch dagegen: Allein der Umstand, daß das werbende Unternehmen von der durch die Darstellung erregten Aufmerksamkeit auch selbst zu profitieren versuche, rechtfertige den schweren Vorwurf einer Menschenrechtsverletzung nicht. Wolle man kommerzielle Werbeanzeigen wegen des mit ihnen stets verbundenen Eigennutzes die Thematisierung von Leid verbieten, hätte ein wesentlicher Teil der Realität in der Werbewelt von vornherein keinen Platz. Dieses Ergebnis könne aber angesichts des besonders schützenswerten Interesses an der Thematisierung gesellschaftlicher Probleme nicht mit der Meinungs- und Pressefreiheit vereinbar sein.[58]

4) Schutz der Ehe (Art. 6 Abs. 1 GG)

[2002]

Mit dem Problem der Kollision zwischen Schutzansprüchen verschiedener Ehen mußte sich das Bundesverfassungsgericht in einem Beschluß vom 7. Oktober 2003[59] auseinandersetzen. Der grundgesetzliche Schutz der Ehe (Art. 6 Abs. 1 GG) erstreckt sich auch auf die Folgewirkungen der Ehe nach einer Scheidung wie insbes. die gegenseitige Verpflichtung zum Unterhalt.[60] Dies gilt auch dann, wenn der Unterhaltspflichtige mit einem neuen Partner eine neue Ehe eingeht. Wegen der Gleichwertigkeit und Gleichrangigkeit der geschiedenen und der neuen Ehe bei unterschiedlichen Interessenlagen, die es gleichermaßen zu schützen gilt, lassen sich aus Art. 6 Abs. 1 GG für die Ausgestaltung der jeweiligen Rechtspositionen durch den Gesetzgeber keine besonderen Anforderungen herleiten.[61] Der Gesetzgeber muß lediglich für Ungleichbehandlungen "hinreichende Gründe" geltend machen können.[62] Das Bundesverfassungsgericht hatte bereits in einer früheren Entscheidung[63] geklärt, daß es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist, wenn das Gesetz beim Aufeinandertreffen von Unterhaltsansprüchen des alten und neuen Ehegatten dem des Geschiedenen den Vorrang einräumt, um so dem Umstand Rechnung zu tragen, daß dieser Anspruch schon vor der Eingehung der neuen Ehe bestanden hat. Jetzt stellte es klar, daß der Gesetzgeber auch der neuen Ehe Vorteile einräumen kann, die er der geschiedenen vorenthält. Die Gerichte dürfen eine solche Entscheidung nicht unterlaufen. So dürfen steuerliche Vorteile, die durch den Eheschluß ausgelöst werden und das Zusammenleben der Ehegatten voraussetzen und die der Gesetzgeber in Konkretisierung seines Schutzauftrags allein der bestehenden Ehe einräumt, durch die Familiengerichte nicht wieder entzogen werden, indem sie der geschiedenen Ehe zugeordnet werden und über die Unterhaltsberechnung den Unterhalt des früheren Ehegatten erhöhen. Es war daher nicht mit Art. 6 Abs. 1 GG zu vereinbaren, die Steuerersparnis durch das sog. Ehegattensplitting (Möglichkeit der Wahl zwischen getrennter Veranlagung und Zusammenveranlagung der Ehegatten) bei der Berechnung der Unterhaltsverpflichtung gegenüber dem Ex-Partner einkommenserhöhend zu berücksichtigen.

5) Schutz der Familie und Elternrecht (Art. 6 Abs. 1 und 2 GG)

[1994] [1995] [1998]

In einer richtungsweisenden Entscheidung vom 9. April 2003[64] stärkte das Bundesverfassungsgericht die rechtliche Stellung des biologischen (leiblichen aber nicht ehelichen) Vaters. Wer ein Kind mit einer verheirateten Frau zeugte, war bislang weitgehend ein "juristischer Niemand"[65]. Gleiches galt für den biologischen Vater, wenn ein anderer Mann mit Zustimmung der Mutter die Vaterschaft anerkannte. Der biologische Vater hatte nach der bisherigen Regelung im Bürgerlichen Gesetzbuch (= BGB) (§ 1600 BGB) in keinem Fall die Möglichkeit, die Vaterschaft des anderen anzufechten. Außerdem genoß er anders als die Großeltern und Geschwister des Kindes oder der Ehegatte (auch frühere Ehegatte) der Mutter nach § 1685 BGB kein gesetzliches Umgangsrecht. Das Bundesverfassungsgericht entschied jetzt, daß Art. 6 Abs. 2 GG, der die Pflege und Erziehung der Kinder als das natürliche Recht der Eltern (Elternrecht) anerkennt, auch den biologischen Vater in seinem Interesse schützt, die rechtliche Stellung als Vater einzunehmen. Ihm muß die Möglichkeit eröffnet werden, in einem besonderen Verfahren diese Stellung zu erlangen, wenn dem nicht der Schutz einer familiären Beziehung zwischen dem Kind und seinen rechtlichen Eltern entgegensteht.[66] Außerdem bildet auch der biologische Vater mit seinem Kind eine durch Art. 6 Abs. 1 GG geschützte Familie, wenn zwischen ihm und dem Kind eine sozial-familiäre Beziehung besteht, die darauf beruht, daß er zumindest eine Zeit lang tatsächlich Verantwortung für das Kind getragen hat. Das Grundrecht schützt auch das Interesse am Erhalt dieser Beziehung. Es erlaubt es nicht, den so mit seinem Kind verbundenen biologischen Vater vom Umgang mit ihm auszuschließen, wenn dieser dem Wohl des Kindes dient.[67]

a) Die Tragweite der Entscheidung ist nicht so groß, wie es auf den ersten Blick scheint, denn das Bundesverfassungsgericht argumentiert differenziert und in vielen Windungen. Es öffnet den Blick für die Interessen des biologischen Vaters, stellt diese aber nicht etwa über die des rechtlichen Vaters und seiner Familie. So wird das Elternrecht des rechtlichen Vaters bis zu einer etwaigen Beendigung seiner Rechtsstellung als Vater weder in Frage gestellt noch relativiert. Das Gericht betont hingegen, daß der biologische aber bisher nicht rechtliche Vater nicht Träger des Elternrechts sei.[68] Es unterscheidet damit offenbar zwei normative Gehalte des Art. 6 Abs. 2 GG: das Elternrecht (bisher mit dem Grundrecht als Ganzes gleichgesetzt) und den rechtlichen Schutz des Interesses, dieses mit der Rechtsstellung als Vater zu erlangen. Der zweite normative Gehalt ist wohl als Annex zum Elternrecht zu verstehen. Seine genaue dogmatische Erfassung bleibt vorerst der Lehre überlassen.

Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts können für jedes Kind nur jeweils eine Mutter und ein Vater Träger des Elternrechts sein. Ein Nebeneinander von zwei Vätern, denen zusammen mit der Mutter jeweils die gleiche grundrechtlich zugewiesene Elternverantwortung zukomme, entspreche nicht der Vorstellung, die Art. 6 Abs. 2 zugrundeliege.[69] Der gegenwärtige Wandel der familiären Strukturen in der Gesellschaft fordere keine andere Sichtweise: Selbst wenn sich abzeichnete, daß leibliche Väter beim Auseinanderfallen von rechtlicher und leiblicher Vaterschaft vermehrt ihre Vaterschaft bekennen und in Beziehung zu ihrem Kind stehen wollten, sei dies kein Grund, den biologischen neben dem rechtlichen Vater als Träger des Elternrechts anzuerkennen.[70] Zur Begründung verwies das Gericht auf die bei einer solchen Konstellation zu erwartenden Rollenkonflikte und ihre negativen Auswirkungen auf das Kindeswohl.[71] Diese Befürchtung dürfte in Fällen, in denen sich alle Beteiligten einig sind und ihr Handeln erkennbar am Interesse des Kindes orientieren, unbegründet sein. In diesen Fällen stellt sich allerdings die Frage, wozu es der rechtlichen Anerkennung einer zweiten Vaterschaft bedarf.

Wenn nur einer rechtlicher Vater sein kann, muß die Rechtsordnung eine Entscheidung treffen. Art. 6 Abs. 2 GG geht nach Auffassung des Gerichts von der natürlichen Verantwortung der leiblichen Eltern aus und verpflichtet daher den Gesetzgeber, die Zuweisung der rechtlichen Elternstellung an der Abstammung des Kindes auszurichten.[72] Zwar ist es nicht zu beanstanden, wenn dem Ehemann einer verheirateten Mutter in der Vermutung, daß er auch der leibliche Vater ihres Kindes ist, die Vaterschaft rechtlich zugeordnet wird.[73] Das Ziel der Übereinstimmung von leiblicher und rechtlicher Elternschaft verlangt jedoch, daß für Zweifelsfälle auch zugunsten biologischer Väter ein Verfahren eröffnet wird, in dem die Vaterschaft überprüft und gegebenenfalls neu zugeordnet wird. Ebenso zugunsten derjenigen, die von einer biologischen Vaterschaft ausgehen, diese aber mangels Kooperation der Mutter nicht nachweisen können. Insofern gewährleistet Art. 6 Abs. 2 GG dem biologischen Vater grundsätzlich einen verfahrensrechtlichen Zugang zum Elternrecht. Gefordert ist damit tatsächlich nur ein Verfahren zur Erlangung der Elternstellung. Wer ohne dieses Bestreben lediglich Gewißheit über die Abstimmung eines Kindes erlangen will, kann sich nicht auf Art. 6 Abs. 2 GG sondern allenfalls auf sein allgemeines Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. 1 Abs. 1 GG) berufen.[74]

Die bisherige Argumentation führte indessen nur zu einem Zwischenergebnis. Denn Art. 6 Abs. 2 GG begreift das Eltern-Kind-Verhältnis nicht nur als Abstammungsverbindung sondern auch als soziale und personale Verbundenheit. Auch dies muß der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Familienrechts berücksichtigen. Der biologische Vater hat daher keinen Anspruch darauf, vorrangig die Vaterstellung eingeräumt zu erhalten und den bisherigen rechtlichen Vater damit zu verdrängen. Es ist sogar umgekehrt nicht zu beanstanden, daß der Gesetzgeber den Interessen des Kindes und seiner rechtlichen Eltern am Erhalt des bestehenden sozialen Familienverbandes den Vorrang eingeräumt und es dementsprechend dem biologischen Vater grundsätzlich verwehrt hat, die Vaterschaft des anderen anzufechten.[75] Der rechtliche Schutz des biologischen Vaters führt also grundsätzlich nicht zu einer Erschütterung der bestehenden Eltern-Kind-Beziehungen.

Art. 6 Abs. 2 GG ist jedoch verletzt, wenn die Anfechtung auch dann ausgeschlossen wird, wenn keine sozial-familiäre Beziehung des Kindes zu seinem rechtlichen Vater besteht, etwa weil sich die verheirateten Eltern noch vor der Geburt getrennt haben oder der rechtliche Vater zwar die Vaterschaft anerkannt aber niemals persönlichen Kontakt zu dem Kind aufgenommen hat. In diesem Falle steht der Vaterstellung des biologischen Vaters allein das Interesse der Mutter entgegen, nicht mit ihm das Elternrecht teilen zu wollen; dieses wird indessen nicht durch das Grundrecht der Mutter aus Art. 6 Abs. 2 GG geschützt. Der rechtliche Vaterwechsel berührt das Kindeswohl nicht oder nur unwesentlich. Er kann sogar im Interesse des Kindes sein, wenn es mit seinem biologischen Vater schon aufgrund früherer Kontakte eine Vater-Kind-Beziehung aufbauen konnte. Dem biologischen Vater, der bereit ist, Elternverantwortung für sein Kind zu übernehmen, darf unter solchen Voraussetzungen nicht die Möglichkeit verwehrt werden, auch rechtlich in die Elternposition einzurücken.[76] - Eine Schwangerschaft aus einem One-Night-Stand oder einer kurzen Affaire kann damit für die Mutter größere Folgen haben als bisher: Sie muß künftig auch bei einem noch-ehelichen Kind oder einer "Gefälligkeitsanerkennung" der Vaterschaft durch einen Dritten damit rechnen, daß sie sich die langjährige Elternverantwortung mit einem Mann teilen muß, der eigentlich nur als kurzfristiger Partner ausgesucht worden war.

b) Nicht immer wird es dem biologischen Vater darauf ankommen, die rechtliche Vaterstellung zu erlangen. Für manchen Vater dürfte ein gesetzliches Umgangsrecht attraktiver sein, das es ihm erlaubt, ohne die mit der Elternschaft verbundenen Verpflichtungen eine Verbindung zu seinem Kind zu unterhalten und seine Entwicklung mitzuverfolgen. Der Weg dorthin wurde jetzt durch die Klarstellung des Bundesverfassungsgerichts bereitet, daß auch der biologische Vater und sein Kind eine durch Art. 6 Abs. 1 geschützte Familie bilden können. Für den Begriff der Familie im Sinne dieses Grundrechts ist nicht maßgeblich, ob die Kinder von den Eltern abstammen, ehelich oder nichtehelich geboren wurden.[77] Familie ist vielmehr die tatsächliche Lebens- und Erziehungsgemeinschaft zwischen Kindern und Eltern, die für diese Verantwortung tragen. Leben die Eltern nicht zusammen, tragen aber beide tatsächlich Verantwortung für ihr Kind, bestehen nach Ansicht des Gerichts zwei geschützte Familien: die mit der Mutter und die mit dem Vater.[78] Dies kann beispielsweise der Fall sein, wenn die verheiratete Mutter noch mit ihrem Ehegatten zusammenlebt, sich aber immer wieder mit dem biologischen Vater trifft oder diesem immer wieder oder für längere Zeiträume des Kind anvertraut.

Zwar kann die Mutter  der Familie von Vater und Kind wegen der fehlenden rechtlichen Absicherung jederzeit die Basis entziehen. Weder Art. 6 Abs. 2 noch Art. 6 Abs. 1 GG gewähren dem biologischen Vater einen Anspruch, sich weiterhin verantwortlich um sein Kind kümmern zu dürfen. Doch auch wenn die Möglichkeit zur tatsächlichen Verantwortung wegfällt, bleibt die früher entstandene personale Verbundenheit, die zudem noch durch die verwandtschaftliche Verbindung getragen wird. Das Interesse von Vater und Kind am Erhalt der bestehenden Beziehung[79] wird in Nachwirkung des Schutzes, den ihre familiäre Verantwortungsgemeinschaft zuvor erfahren hat, ebenfalls von Art. 6 Abs. 1 GG geschützt. Daraus folgt ein Recht des Vaters auf Umgang mit dem Kind jedenfalls dann, wenn der Umgang dem Wohle des Kindes dient.[80] Das Bundesverfassungsgericht bezog sich in seiner Begründung auf wissenschaftliche Erkenntnisse, nach denen die Trennung eines Kindes von einer bisherigen elterlichen Bezugsperson ihm ein wichtiges Stück Orientierung nimmt und seine Selbstsicherheit und Selbstgewißheit berührt.[81] Es übersah dabei nicht die Problematik, daß das Kindeswohl auch durch einen möglichen Konflikt zwischen alten und neuen familiären Bindungen beeinträchtigt werden kann. Es fand jedoch eine Lösung mit der Aussage, daß Art. 6 Abs. 1 GG nur die familiäre Beziehung und nicht das einzelne Familienmitglied für sich schützt und daher nur ein Recht vermitteln kann, das mit dem Interesse des anderen Familienmitglieds korrespondiert.[82] Ein Umgang mit dem Kind, der diesem schaden könnte, wird also nicht gewährleistet. Das Umgangsrecht des biologischen Vaters bleibt damit im Ergebnis auf die Fälle beschränkt, in denen es - auch in der praktischen Wahrnehmung - mit den familiären Beziehungen des Kindes zu seinen rechtlichen Eltern harmoniert. Es wird damit letztlich auch von der Haltung der rechtlichen Eltern beeinflußt. Angesichts der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklung zu mehr und mehr Patchwork-Familien und der gestiegenen Bereitschaft geschiedener und getrennt lebender Eltern, sich auf die veränderte Lebensrealität einzulassen, ist seine Bedeutung aber dennoch nicht zu unterschätzen.

 Der Gesetzgeber hat den Forderungen des Bundesverfassungsgerichts mittlerweile Rechnung getragen. Nach § 1600 Abs. 1 BGB in seiner heutigen Fassung kann auch ein "Mann, der an Eides Statt versichert, der Mutter des Kindes während der Empfängniszeit beigewohnt zu haben", die Vaterschaft des rechtlichen Vaters anfechten. Die Anfechtung setzt nach Abs. 2 voraus, dass zwischen dem Kind und seinem rechtlichen Vater "keine sozial-familiäre Beziehung besteht" und der Anfechtende leiblicher Vater des Kindes ist. § 1685 Abs. 2 S. 1 BGB bestimmt in seiner heuten Fassung, daß "enge Bezugspersonen des Kindes" das Recht auf Umgang mit dem Kind haben, wenn dieses dem Kindeswohl entspricht und sie "für das Kind tatsächliche Verantwortung tragen oder getragen haben (sozial-familiäre Beziehung)". Eine Übernahme tatsächlicher Verantwortung ist nach Satz 2 in der Regel anzunehmen, wenn die Person mit dem Kind längere Zeit in häuslicher Gemeinschaft zusammengelebt hat. Der biologische Vater ist damit allerdings nicht der einzige, der von der neuen Regelung profitiert: Auch ein früherer Partner der Mutter, der weder mit ihr verheiratet war noch biologischer Vater des Kindes ist, wohl aber mit ihr und dem Kind in nichtehelicher Lebensgemeinschaft zusammengelebt hat, kann zum Wohle des Kindes den weiteren Umgang mit ihm verlangen.

6) Fernmeldegeheimnis (Art. 10 GG)

[1999] [2002]

Ohne Erfolg blieben zwei Verfassungsbeschwerden gegen richterliche Anordnungen, die den Zugriff der Strafverfolgungsbehörden auf die Telefonverbindungsdaten von Journalisten ermöglichten. Von den Mitarbeitern eines öffentlich-rechtlichen Fernsehsenders und einer Illustrierten war angenommen worden, daß sie mit gesuchten Straftätern, über die sie recherchierten, in telefonischem Kontakt standen. In einem Fall konnte tatsächlich aufgrund der Verbindungsdaten der Aufenthaltsort des Täters ermittelt und der Täter gefaßt werden. Die richterlichen Anordnungen richteten sich nicht an die Journalisten sondern an die Telekommunikationsunternehmen. Diese mußten Daten, die bei ihnen aus technischen und abrechnungstechnischen Gründen bereits vorhanden waren, mitteilen und z.T. weitere Daten ermitteln.

Einschlägig war das Grundrecht des Fernmeldegeheimnisses (Art. 10 GG), das in Telekommunikationsangelegenheiten als spezielleres Grundrecht das Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. 1 Abs. 1 GG) verdrängt.[83] In seinem bereits erwähnten[84] Urteil vom 12. März 2003[85] entschied das Bundesverfassungsgericht, daß richterliche Anordnungen an Telekommunikationsunternehmen, zum Zwecke der Strafverfolgung Auskunft über Verbindungsdaten zu erteilen, in das Grundrecht der Telekommunikationsteilnehmer aus Art. 10 GG eingreifen.[86] Das Fernmeldegeheimnis schützt zwar in erster Linie den Inhalt der Kommunikation, bezieht sich aber ebenso auf deren Umstände. Dazu gehört insbesondere, ob, wann und wie oft zwischen welchen Personen Telekommunikationsverkehr stattgefunden hat oder versucht worden ist. Der Eingriff war hier der öffentlichen Gewalt zuzurechnen, denn die Mitteilung der Daten erfolgte zwar durch die privaten Telekommunikationsunternehmen, doch handelten diese auf hoheitliche Anordnung und ohne eigenen Handlungsspieltraum.[87]

Eingriffe in das Fernmeldegeheimnis dürfen nach dem Gesetzesvorbehalt in Art. 10 Abs. 2 GG nur aufgrund eines Gesetzes stattfinden, das seinerseits verfassungsmäßig sein und auf verfassungsmäßige Weise angewendet werden muß. Dazu gehört vor allem die Achtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips.[88] Am legitimen Zweck der Maßnahme, ihrer Geeignetheit und Erforderlichkeit bestanden hier keine Zweifel. Anders lag es bei der Frage der Angemessenheit (Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne). Hier mußte das Bundesverfassungsgericht zu einem drängenden Problem der Rechtsstaatlichkeit in der technisierten Welt des 21. Jahrhunderts Farbe bekennen. Es stellte sich dieser Herausforderung, indem es zunächst ausführlich begründete, warum es sich beim Zugriff auf die Telekommunikationsdaten um einen schwerwiegenden Eingriff handelt. Es arbeitete heraus, daß heute, nach dem Einzug der digitalen Technik in die Schaltzentralen, der möglichen Integration verschiedener Telekommunikationsdienste in einem Telekommunikationsnetz und der Verbreitung des Internet, Daten über das Kommunikationsverhalten des Bürgers in so großem Umfang zur Verfügung stehen, daß sie - gerade in ihrer Masse - weitgehende Rückschlüsse auf sein Kommunikations- und Bewegungsverhalten, sein soziales Umfeld und die Intensität seiner Kontakte zulassen. Die Unbefangenheit des Kommunikationsaustausches und das Vertrauen in den Schutz der Unzugänglichkeit der Telekommunikationsanlagen können dadurch gefährdet werden. Erschwerend tritt hinzu, daß bei jedem Auskunftsersuchen zwangsläufig zahlreiche Personen in den Wirkungsbereich der Maßnahmen einbezogen werden, die in keiner Beziehung zum Tatvorwurf stehen und den Eingriff nicht durch ihr Verhalten veranlaßt haben.[89]

Vor diesem Hintergrund konkretisierte das Bundesverfassungsgericht die Anforderungen der Angemessenheit wie folgt: Die Maßnahmen müssen zur Verfolgung einer Straftat von erheblicher Bedeutung erforderlich sein, hinsichtlich derer ein konkreter Tatverdacht besteht, und es muß bereits vor der richterlichen Anordnung eine hinreichend sichere Tatsachenbasis für die Annahme vorliegen, daß der Betroffene mit dem Beschuldigten über Telekommunikationsanlagen in Verbindung steht.[90] Werden die Unternehmen zur Mitteilung der Verbindungsdaten der eingehenden Telefongespräche verpflichtet, ist darüber hinaus zu berücksichtigen, daß sie diese gewöhnlich nicht speichern und daher nur durch einen Abgleich ihres gesamten Datenbestandes ermitteln können, wodurch besonders viele Telekommunikationsteilnehmer betroffen werden.[91] In den vorliegenden Fällen - es ging um die Ergreifung des Terroristen Hans-Joachim Klein sowie des Wirtschaftskriminellen Dr. Jürgen Schneider, der mit Insolvenzstraftaten, Kreditbetrug und Steuerhinterziehung Schäden in Höhe von ca. 2 - 3 Milliarden DM verursacht hatte - waren die Voraussetzungen erfüllt. Das Gericht unterstrich, daß auch Wirtschaftsstraftaten die für solche Eingriffe vorausgesetzte erhebliche Bedeutung aufweisen können.[92]

Der staatliche Zugriff auf die Verbindungsdaten berührte auch die Grundrechte der Presse- bzw. Rundfunkfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG). Diese schützen mit der Informationsbeschaffung der Medien auch die Geheimhaltung der Informationsquellen und das Vertrauensverhältnis zwischen den Medien und ihren Informanten. Unter den Schutz fällt auch der Kontakt zu Personen, die selbst Gegenstand der Berichterstattung sind.[93] Im übrigen liegt in der Verschaffung staatlichen Wissens über die bei der journalistischen Recherche hergestellten Kontakte ein Eingriff in das Redaktionsgeheimnis.[94]

Das Bundesverfassungsgericht sah den Eingriff aber durch die Grundrechtsschranke der allgemeinen Gesetze (Art. 5 Abs. 2 GG) gerechtfertigt, die im Kern wiederum auf eine Abwägung verweist. Presse- und Rundfunkfreiheit verlangten nicht, Journalisten generell von der strafprozeßrechtlichen Überwachung der Telekommunikation auszunehmen. Ein Postulat, daß das Strafverfolgungsinteresse grundsätzlich hinter dem Rechercheinteresse der Medien zurückzutreten habe, lasse sich verfassungsrechtlich nicht begründen. Ihrer Verpflichtung, bei der Prüfung der Voraussetzungen der Auskunftsanordnung die Ausstrahlungswirkung der Mediengrundrechte zu berücksichtigen, waren die Gerichte nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts nachgekommen. Ausschlaggebend war dabei, daß die Maßnahmen in den betreffenden Fällen nicht darauf zielten, die Identität eines typischen Informanten aufzudecken, sondern den Aufenthaltsort eines seiner Identität nach bekannten Tatverdächtigen zu ermitteln. Zu der Frage, ob das Interesse von Journalisten, unbehelligt telefonischen Kontakt zu gesuchten Straftätern haben zu können, überhaupt verfassungsrechtlichen Schutz genießt, wollte das Bundesverfassungsgericht nicht Stellung nehmen.[95]

7) Recht auf effektiven Rechtsschutz gegen die öffentliche Gewalt (Art. 19 Abs. 4 GG), Recht auf effektiven Rechtsschutz in anderen Angelegenheiten (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) und Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG)

[1994] [1995] [1996] [1997]

Mit zwei Beschlüssen vom 30. April[96] und 7. Oktober 2003[97] änderte das Bundesverfassungsgericht seine Rechtsprechung zur Frage der Notwendigkeit fachgerichtlichen Rechtsschutzes gegen Verletzungen des Anspruchs auf rechtliches Gehör vor Gericht. Der Erste Senat hatte gemäß § 16 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes (= BVerfGG) das Plenum angerufen, weil er von der bisherigen Position beider Senate abweichen wollte, daß die Verfassung keinen Rechtsschutz gegen Maßnahmen der rechtsprechenden Gewalt gewährleiste.[98] Das Plenum entschied in dem Beschluß vom 30. April über die abstrakte verfassungsrechtliche Frage. Der Erste Senat setzte die neue Linie dann am 7. Oktober mit der Entscheidung über eine Verfassungsbeschwerde um.

Nach Art. 19 Abs. 4 GG steht dem Bürger, wenn er durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt wird, der Rechtsweg offen. Damit will das Grundgesetz sicherstellen, daß der Bürger jede hoheitliche Maßnahme deutscher Stellen, die rechtswidrig in seine Rechte eingreift, vor den Gerichten abwehren kann. Nach der bisherigen Rechtsprechung[99] und der herrschenden Auffassung in der Literatur[100], die sich insbesondere auf eine historische Auslegung stützen,[101] ist der Begriff der "öffentlichen Gewalt" in Art. 19 Abs. 4 allerdings eng auszulegen und erfaßt nur Maßnahmen der vollziehenden Gewalt. Dies wird regelmäßig durch die Formel ausgedrückt, das Grundgesetz gewährleiste Rechtsschutz durch den Richter, nicht aber gegen den Richter. Von jener Formel verabschiedete sich das Bundesverfassungsgericht jetzt. Die restriktive Auslegung des Art. 19 Abs. 4 GG gab es aber nicht auf. Dies ermöglichte ein geschickter intellektueller Schachzug des Plenums: Nach der von ihm beschlossenen neuen Linie ergibt sich das Recht des Bürgers auf eine gerichtliche Überprüfung einer richterlichen Entscheidung, welche den Anspruch auf rechtliches Gehör vor den Gerichten verletzt, bereits aus dem allgemeinen Justizgewährungsanspruch (dem allgemeinen Recht auf effektiven Rechtsschutz, z.B. in zivilrechtlichen Angelegenheiten)[102]. Das wegen der restriktiven Auslegung des Art. 19 Abs. 4 GG verbleibende Rechtsschutzdefizit werde durch diesen behoben.[103]

Der Justizgewährungsanspruch leitet sich allgemein aus dem Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) ab.[104] Er sichert nach der Entscheidung des Plenums nicht nur die Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche, sondern ermöglicht Rechtsschutz auch in anderen Fällen, in denen dies rechtsstaatlich geboten ist. So auch gegen Verletzungen von Verfahrensgrundrechten durch ein Gericht. Denn in einem Rechtsstaat, so die tragende Begründung, gehört zur einer grundrechtlichen Garantie die Möglichkeit einer zumindest einmaligen gerichtlichen Kontrolle ihrer Einhaltung. Allenfalls zum Schutze besonders hochrangiger Rechtsgüter kann die Verfassung (selbst) Ausnahmen vorsehen, wie dies etwa beim Grundrecht des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses in Art. 10 Abs. 2 GG zum Schutze der freiheitlich-demokratischen Grundordnung und des Bestandes des Bundes und der Länder geschehen ist.[105] Geht es speziell um die Durchsetzung des Rechts auf rechtliches Gehör, soll sich daher aus dem "Rechtsstaatsprinzip in Verbindung mit Art. 103 Abs. 1 GG" ergeben, daß der Weg zu einer gerichtlichen Überprüfung offenstehen muß.[106]

Das Bundesverfassungsgericht nannte abweichend von seiner bisherigen Praxis zuerst das objektiv-rechtliche Rechtsstaatsprinzip (verankert in Art. 20 Abs. 3 GG) und dann die Grundrechtsnorm (Art. 103 Abs. 1 GG). Das mag damit zusammenhängen, daß es die objektiv-rechtliche Funktion des Art. 103 Abs. 1 unterstreichen wollte. Rechtliches Gehör sei nicht nur ein "prozessuales Urrecht" des Menschen, sondern auch ein objektiv-rechtliches Verfahrensprinzip, das für ein rechtsstaatliches Verfahren schlechthin konstitutiv sei.[107] Auch wenn sich dies kaum bestreiten läßt, kann es doch nicht überdecken, daß bei den Grundrechten und grundrechtsgleichen Rechten immer die subjektiv-rechtliche Seite, das Recht des Bürgers, im Vordergrund steht. Dem wird die bisherige Praxis gerecht, indem sie bei normativen Aussagen, die sich aus der Verbindung von Grundrechten und Verfassungsgrundsätzen ergeben, zuerst die Grundrechtsnorm als die für die Eröffnung des Rechtsschutzes maßgebliche Bestimmung aufführt. Dementsprechend sollte hier formuliert werden, daß der Bürger, wenn er vor Gericht kein rechtliches Gehör erhalten hat, kraft seines Grundrechts aus "Art. 103 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG)" verlangen kann, daß sich ein Gericht mit der umstrittenen richterlichen Entscheidung befaßt.

Normalerweise wird die Verletzung der Verfahrensgrundrechte im Rahmen der Fortführung des Rechtsstreits in der nächsten Instanz geprüft. Der Justizgewährungsanspruch gewährleistet aber auch Rechtsschutz gegen Rechtsverletzungen, die erst in der letzten Instanz geschehen. Jedenfalls für Fehler, die entscheidungserheblich sind, muß die Prozeßordnung eine eigenständige gerichtliche Abhilfe vorsehen.[108] Der Rechtsschutz muß dabei durch die Fachgerichte erfolgen. Das Bundesverfassungsgericht legte auffallend gründlich dar, daß die Verfassungsbeschwerde keine Alternative darstellt. Sie ist kein zusätzlicher Rechtsbehelf zum fachgerichtlichen Verfahren, der sich diesem in gleicher Funktion anschließt, sondern ein außerordentlicher Rechtsbehelf, eine besondere Vorkehrung zur Durchsetzung von Grundrechten und grundrechtsgleichen Rechten; dies kommt nicht zuletzt in ihrer Subsidiarität zum Ausdruck (vgl. § 90 Abs. 2 S. 1 BVerfGG). Das Gericht erinnerte auch daran, daß dieser Rechtsbehelf durch ein Annahmeverfahren begrenzt wird (vgl. §§ 93a ff. BVerfGG) und sich im übrigen auf die Aufhebung der fachgerichtlichen Entscheidung und die Zurückverweisung der Sache beschränkt (vgl. § 95 Abs. 2 BVerfGG).[109]

Die fachgerichtliche Kontrolle muß indessen nicht durch eine höhere Instanz erfolgen. Es kommt auch ein Rechtsbehelf zu dem Gericht in Betracht, dessen Verfahrenshandlung gerügt wird (iudex a quo), wenn auf diese Weise der Mangel effektiv beseitigt werden kann.[110] Wurde das rechtliche Gehör im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes verweigert, kann seine Nachholung im Hauptsacheverfahren vorgesehen werden, wenn dies die Rechtsverfolgung insgesamt nicht unzumutbar erschwert. Der fachgerichtliche Rechtsschutz muß also nicht zu einer erneuten Eröffnung des Rechtsweges führen, welche die Rechtssicherheit beeinträchtigen würde.[111] Die Zerstreuung dieser Befürchtung war dem Bundesverfassungsgericht wichtig. Keine Lösung bilden nach Auffassung des Plenums allerdings die in der Praxis von den Fachgerichten entwickelten ungeschriebenen außerordentlichen Rechtsbehelfe. Sie genügen nicht den rechtsstaatlichen Anforderungen an die Rechtsmittelklarheit. Rechtsbehelfe müssen im Gesetz geregelt und in ihren Voraussetzungen für die Bürger erkennbar sein.[112] Hier vollzog das Bundesverfassungsgericht eine radikale Kehrtwendung.[113] Grund zur Beanstandung gab insbesondere die bei den ungeschriebenen Rechtsbehelfen aufgetretene Unsicherheit in der Frage, ob erst ein solcher Rechtsbehelf oder sogleich die Verfassungsbeschwerde einzulegen ist.[114]

III. Schutz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung

[I. Vorbemerkung] [II. Grundrechte und grundrechtsgleiche Rechte]

Einen peinlichen Mißerfolg im Kampf gegen den Rechtsextremismus bedeutete die Einstellung des Parteiverbotsverfahrens gegen die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD). Das Grundgesetz betont in Art. 21 die Rolle der politischen Parteien in der freiheitlich-demokratischen Ordnung. Es erteilt ihnen den Auftrag, bei der politischen Willensbildung des Volkes mitzuwirken, und gewährt ihnen einen gegenüber anderen Vereinigungen und Verbänden privilegierten Status. Dazu gehört auch, daß Parteien nach Art. 21 Abs. 2 GG nur dann verboten werden können, wenn sie verfassungswidrig sind. Die Feststellung der Verfassungswidrigkeit ist zudem dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten, das in einem besonderen Verfahren (Parteiverbotsverfahren) entscheidet (sog. Parteienprivileg). Verfassungswidrig ist eine politische Partei, wenn sie nach ihren Zielen oder dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgeht, die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik zu gefährden. Das Bundesverfassungsgericht fordert dafür, daß die Partei in aktiv kämpferischer, aggressiver Haltung planvoll auf ihr verfassungswidriges Ziel hinarbeitet.[115] Diese Voraussetzung und das Erfordernis eines verfassungsgerichtlichen Verfahrens haben dazu geführt, daß in der Geschichte der Bundesrepublik erst zwei Parteiverbote ausgesprochen worden sind.[116] Der Anlauf zu einem weiteren Verbot ist jetzt mit einem Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 18. März 2003[117] gescheitert.

Die Schwierigkeit im Parteiverbotsverfahren liegt darin, das geforderte planvolle kämpferische Hinarbeiten auf die Beseitigung oder Beeinträchtigung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung nachzuweisen. So war es auch im Falle der NPD, einer nationalistischen, in Teilen nationalsozialistisch orientierten Partei, die direkt oder indirekt für manche rechtsextreme Ausschreitung der letzten zehn bis fünfzehn Jahre verantwortlich ist. Sie betätigt sich vor allem in den neuen Bundesländern; bei den Landtagswahlen in Sachsen im September 2004 konnte sie ein Ergebnis von neun Prozent der Wählerstimmen (fast so viele Stimmen wie die Sozialdemokratische Partei Deutschlands, SPD) erzielen. Auf die Anträge des Bundestages, des Bundesrates und der Bundesregierung, die NPD für verfassungswidrig zu erklären, hatte das Gericht 2001 beschlossen, die Verhandlung durchzuführen.[118] Anfang 2002 wurde indessen bekannt, daß ein Parteifunktionär, auf dessen politische Äußerungen sich die Verbotsanträge zum Nachweis der aktiven, aggressiv-kämpferischen Haltung der Partei bezogen, V-Mann (verdeckte "Verbindungsperson" und Informant) eines Landesamtes für Verfassungsschutz war. Auf Nachforschungen stellte sich heraus, daß die Partei auch sonst - sogar auf Ebene der Vorstände - mit V‑Personen von Verfassungsschutzbehörden durchsetzt war. [119] Damit stellte sich die Frage, ob die Prozeßstrategie der NPD ausgeforscht oder sogar beeinflußt und damit eine ordnungsgemäße Verteidigung unmöglich gemacht worden war.

Die NPD beantragte die Einstellung des Verfahrens. Nach § 15 Abs. 4 S. 1 BVerfGG ist im Parteiverbotsverfahren für eine der Partei nachteilige Entscheidung in jedem Fall eine Mehrheit von zwei Dritteln der Senatsmitglieder erforderlich. Damit errichtet das Gesetz eine besondere Hürde für derartige einschneidende Eingriffe in die politische Freiheit. Nachteilig ist grundsätzlich jede Entscheidung, welche die Rechtsposition verschlechtern oder sonst negativ beeinflussen kann. Dazu zählt nach der Auffassung des Gerichts, die sich auf den Wortlaut ("in jedem Fall") und den Sinn und Zweck der Vorschrift stützt, auch die Ablehnung eines Antrags, das Verfahren einzustellen.[120] Angesichts der besonderen, verfassungsrechtlich anerkannten Rolle der politischen Parteien und dem daraus folgenden erhöhten Schutz bedürften der Partei nachteilige Entscheidungen im Verbotsverfahren einer besonderen Legitimation, wie sie § 15 Abs. 4 S. 1 BVerfGG mit dem Erfordernis einer qualifizierten Mehrheit fordere.[121] Dies führte im Ergebnis dazu, daß das Verbotsverfahren gegen die NPD eingestellt werden mußte, obwohl nur drei der acht Richter der Ansicht waren, daß sich aus der staatlichen Infiltrierung der Partei ein Verfahrenshindernis ergebe. Die Erwägungen sowohl dieser Richter als auch der Senatsmehrheit, die sich wegen § 15 Abs. 4 S. 1 BVerfGG nicht durchsetzen konnte, sind in dem Einstellungsbeschluß wiedergegeben.[122] Da es sich nur um eine Prozeßentscheidung handelt, kommt ihnen allerdings nicht die in § 31 BVerfGG vorgesehene allgemeine Bindungswirkung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu.[123]

Nach Ansicht der Richter Hassemer, Broß und Osterloh ergab sich aus der mangelnden Staatsfreiheit der angegriffenen Partei auf Führungsebene, zu der die staatliche Infiltrierung geführt hatte, ein rechtsstaatlich begründetes, nicht behebbares Verfahrenshindernis. Die Richter monierten nicht nur das verzerrte Bild der Partei, das dadurch entstand, daß sich die Antragsteller in ihren Begründungen auf Äußerungen führender Parteimitglieder stützten, die dem Verfassungsschutz als V-Personen dienten. Sie stellten auch darauf ab, daß ein staatliches Verfahren nicht einseitig am Verfahrenszweck orientiert ohne Rücksicht auf rechtsstaatliche Kosten durchgeführt werden darf. Gerade das verfassungsgerichtliche Parteiverbot, die schärfste und überdies zweischneidige Waffe des demokratischen Rechtsstaates gegen seine organisierten Feinde, brauche ein Höchstmaß an Rechtssicherheit, Transparenz, Berechenbarkeit und Verläßlichkeit des Verfahrens.[124] Dem Bundesverfassungsgericht sei mit der alleinigen Zuständigkeit zur Entscheidung über die Frage der Verfassungswidrigkeit einer Partei zugleich eine Garantenstellung für die Wahrung der rechtsstaatlichen Anforderungen an dieses Verfahren zugewiesen.[125]

Die Richter räumten ein, daß die Einstellung nur als ultima ratio in Betracht kommt, wenn ein Verfassungsverstoß von erheblichem Gewicht einen nicht behebbaren rechtsstaatlichen Schaden für das Verfahren bewirkt und dessen Fortsetzung deswegen auch bei Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einem wirksamen Schutz gegen die von verfassungswidrigen Parteien ausgehenden Gefahren nicht hinnehmbar ist.[126] Sie sahen diese Voraussetzungen jedoch erfüllt: Mitglieder der Führungsebene, die mit den gegensätzlichen Loyalitätsansprüchen eines staatlichen Auftraggebers und der observierten Partei konfrontiert seien, schwächten die Stellung der Partei als Antragsgegnerin vor dem Verfassungsgericht im Kern. Sie verfälschten unausweichlich die rechtsstaatlich notwendige, freie und selbstbestimmte Selbstdarstellung der Partei im Prozeß. Darauf, ob tatsächlich Informationen über die Prozeßstrategie der Partei übermittelt würden, komme es nicht an. Deswegen müßten die staatlichen Stellen rechtzeitig vor dem Antrag, spätestens mit der Bekanntmachung der Absicht, diesen zu stellen, ihre Quellen in den Vorständen der Partei "abgeschaltet" und eingeschleuste V‑Personen zurückgezogen bzw. den Kontakt eingestellt haben.[127]

Die anderen Richter machten geltend, das Bundesverfassungsgericht dürfe sich der Justizgewähr nicht entziehen. Es müsse alle Möglichkeiten ausschöpfen, um Hindernisse für die Entscheidung in der Sache auszuräumen. Weniger schwerwiegende Mängel könnten im Rahmen des fortgeführten Verfahrens ausgeglichen werden, etwa durch erhöhte Anforderungen an die Beweiswürdigung.[128] So dürften von staatlichen Stellen provozierte Äußerungen oder Verhaltensweisen von Parteimitgliedern nicht ohne weiteres der Partei zugerechnet werden.[129] Die Richter verwiesen auch darauf, daß keine Anhaltspunkte dafür vorlagen, daß die NPD tatsächlich fremdgesteuert oder ihre Prozeßstrategie ausgeforscht worden war. Der bloße Anschein oder die abstrakte Gefahr reichten aber nicht aus.[130] Im übrigen setze die gegebenenfalls vorzunehmende Abwägung eine Sachaufklärung und Beweisaufnahme im Hinblick auf die abwägungsrelevanten Tatsachen - und damit wiederum eine Fortsetzung des Verfahens - voraus.[131]

Auch diese Richter stützten ihre Argumentation darauf, daß die Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer Partei dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten ist. Sie legten das Gewicht jedoch auf den damit dem Bundesverfassungsgericht erteilten Präventionsauftrag, d.h. die ihm von der Verfassung zugewiesene Rolle beim Schutz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, im Rahmen des Konzeptes der wehrhaften Demokratie. Das Grundanliegen des Grundgesetzes, sich nicht durch den Mißbrauch der von ihm gewährleisteten Freiheitsrechte zur Disposition stellen zu lassen, werde verfehlt, wenn das Gericht ein Verfahrenshindernis annehme, ohne die konkrete Gefährlichkeit der Partei und mögliche Verstöße gegen den rechtsstaatlichen Grundsatz des fairen Verfahrens hinreichend aufzuklären, ihre rechtliche Bedeutung mit den Beteiligten zu erörtern und sodann die rechtlichen Belange gegeneinander abzuwägen.[132] Im übrigen ließen diese Richter erkennen, daß es ihrer Ansicht nach Gründe geben kann, die nachrichtendienstliche Beobachtung der Partei mittels V-Personen auch während eines Parteiverbotsverfahrens fortzuführen.[133] Man könnte dies als Beispiel für die in vielen Rechtsstaaten seit dem 11. September 2001 festzustellende Tendenz deuten, der inneren Sicherheit und dem Schutz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung vor Extremisten bei der Abwägung mit rechtsstaatlichen Belangen einen höheren Wert als früher einzuräumen.

Die Nationaldemokratische Partei Deutschlands ist mit dem Beschluß vom 18. März 2003 nicht endgültig ihrer Auflösung entgangen. Da der Beschluß keine Entscheidung in der Sache enthält, können die Bundesregierung, der Bundestag und der Bundesrat jederzeit ein neues Parteiverbotsverfahren einleiten. Ihre damaligen Anträge dürften daher ihre abschreckende Wirkung nicht verfehlt haben.

 

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[1]  Statistik für das Geschäftsjahr 2003, abrufbar unter www.bundesverfassungsgericht.de/cgi-bin/link.pl?aufgaben.

[2]  Vgl. zu den Entscheidungen im einzelnen die Übersicht Plenums-/Senats-/Kammerentscheidungen, www.bundesverfassungsgericht.de/texte/deutsch/organisation/statistik_2003/A-I-5.html.

[3]  Die Übersicht des Gerichts (Fußnote 2) verzeichnet für seine gesamte Tätigkeit erst fünf solcher Verfahren.

[4]  Alle besprochenen Entscheidungen sind im Internet unter der Adresse des Bundesverfassungsgerichts abrufbar. Wichtigere Entscheidungen (auch ältere) finden sich zudem bei Tschentscher (Herausgeber), Deutsches Fallrecht (ehemals German Case Law). Häufig kann eine Veröffentlichung schon dadurch gefunden werden, daß man die Fundstelle in der Entscheidungssammlung (also z.B. "BVerfGE 108, 282") als zusammenhängendes Stichwort bei den Suchmaschinen eingibt.

[5]  BVerfGE 107, 299 (= Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, zitiert nach Band und Seitenzahlen, hier also: 107. Band, Beginn des Urteils auf S. 299) = Neue Juristische Wochenschrift (= NJW) 2003, 1787 = Europäische Grundrechte-Zeitschrift (= EuGRZ) 2003, 280.

[6]  Siehe bereits BVerfGE 21, 362 (369); 61, 82 (101).

[7]  Vgl. bereits BVerfGE 31, 314 (322).

[8]  Vgl. bereits BVerfGE 31, 314 (322); 59, 231 (254); 78, 101 (102 f.); kritisch dazu Hain, Rundfunkfreiheit und Rundfunkordnung, 1993, S. 137 ff., 182 f.

[9]  Vgl. BVerfGE 59, 231, 254 f. (zur Koalitionsfreiheit und allgemeinen Handlungsfreiheit) und BVerfGE 78, 101, 102 f. (zum allgemeinen Gleichheitssatz und zum Eigentumsgrundrecht).

[10] BVerfGE 107, 299 (Leitsatz 1 und S. 310).

[11] BVerfGE 107, 299 (310 f.).

[12] Vgl. zuletzt BVerfGE 103, 44 (59) mit weiteren Nachweisen. Dort wurde die freie Nutzung von Ton- und Bildaufnahmegeräten im Gerichtssaal dem Grundrecht der Rundfunkfreiheit zugeordnet, das als spezielleres Recht die Informationsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 1, 2. Halbsatz GG) verdrängen soll (und nicht umgekehrt); siehe zu dieser Entscheidung die Chronik für 2001/02, ERPL/REDP, Vol. 15 (2003), Nr. 4, S. 1409 ff.

[13] Siehe unten, 6.

[14] BVerfGE 108, 282 = NJW 2003, 3111 = EuGRZ 2003, 621 = Deutsches Verwaltungsblatt (= DVBl. 2003, 1526; siehe dazu auch die abweichende Meinung der Richter Jentsch, Di Fabio und Mellinghoff sowie die Anmerkungen und Besprechungen von Hufen, Juristische Schulung (= JuS) 2003, 1220; Ipsen, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht (= NVwZ) 2003, 1210; Kästner, Juristenzeitung (= JZ) 2003, 1178 und Pofalla, NJW 2004, 1219.

[15] Siehe zum Diskussionsstand zum Zeitpunkt der Entscheidung Hufen, JuS 2003, 1220 (1221) mit Nachweisen.

[16] Siehe aus der Rechtsprechung etwa die Entscheidung des Schweizer Bundesgerichtes vom 12. 11.1997, BGE 123, I 296 und dazu Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Entscheidung vom 15.02.2001, Dahlab v. Schweiz, NJW 2001, 2871.

[18]  BVerfGE 108, 282 (Entscheidungsformel, Nr. 1).

[19]  Vgl. statt vieler etwa Battis/Bultmann, JZ 2004, 581.

[20]  Vgl. bereits BVerfGE 32, 98 (106); 33, 23 (28); 41, 19 (49); jetzt auch BVerfGE 108, 282 (297).

[21]  Grundrechtsgleiche Rechte sind im Grundgesetz außerhalb des Grundrechtsabschnittes (Art. 1 - 19) gewährleistete Rechte des Bürgers, die nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG wie die Grundrechte im Wege der Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht geltend gemacht werden können. Sie stehen nach Ideengeschichte, Funktion und Struktur den Grundrechten gleich.

[22]  Vgl. auch die insofern inhaltsgleiche Regelung in Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 Abs. 2 der Weimarer Reichsverfassung (= WRV). Art. 33 Abs. 3 GG verdrängt im übrigen als lex specialis für den Problembereich der Zulassung zu öffentlichen Ämtern das Verbot der Diskriminierung nach dem Glauben und der religiösen Anschauungen in Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG, ohne indessen im Ergebnis andere Anforderungen zu stellen (vgl. Jachmann, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Band 1, 4. Auflage 1999, Art. 33 Abs. 3 Randnummer [= Rdnr.] 24).

[23]  Darauf weisen zu Recht die Richter Jentsch, Di Fabio und Mellinghoff in ihrer abweichenden Meinung hin (BVerfGE 108, 314, 318 f.).

[24]  BVerfGE 108, 282 (Entscheidungsformel, Nr. 1; vgl. auch S. 294). Beachte die Parallele zu der Entscheidung von 2002 zur Schächtgenehmigung für ausländische muslimische Metzger (BVerfGE 104, 337), wo das Gericht ebenso nebelhaft formuliert hatte, das Verweigern der betreffenden Genehmigung verletze den Beschwerdeführer in seinem "Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 4 Absatz 1 und 2 des Grundgesetzes"; siehe dazu bereits die Chronik für 2001/02, ERPL/REDP, Vol. 15 (2003), Nr. 4.

[25]  Siehe BVerfGE 108, 282 (295).

[26]  Vgl. etwa die Parallele zum Recht auf informationelle Selbstbestimmung, das sich nach BVerfGE 65, 1 aus "Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1" ergibt.

[27]  Siehe BVerfGE 108, 282 (295 ff., Abschnitte B.II.1 - 4).

[28]  BVerfGE 108, 282 (296 f.).

[29]  Vgl. BVerfGE 108, 282 (297).

[30]  Vgl. insofern bereits BVerfGE 79, 69 (75).

[32]  Jentsch/Di Fabio/Mellinghoff, Abweichende Meinung zu BVerfGE 108, 282, BVerfGE 108, 314 (315 ff.).

[33]  Vgl. bereits BVerfGE 24, 236 (247).

[34]  Vgl. BVerfGE 108, 282 (299).

[35]  Die Annahme solcher immanenten Schranken der im Grundgesetz ohne ausdrücklichen Schrankenvorbehalt gewährleisteten Glaubensfreiheit entspricht der ganz herrschenden Meinung, vgl. bereits BVerfGE 32, 98 (108); 33, 23 (29 ff.). Ein Teil der Literatur (z.B. Starck, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Band 1, 4. Auflage 1999, Art. 4 Abs. 1 und 2, Rdnr. 75 ff.) will stattdessen Art. 136 Abs. 1 der Weimarer Reichsverfassung, auf den Art. 140 GG verweist, als Schranke heranziehen, siehe dazu bereits die Chronik für 1995, ERPL/REDP, Vol. 8 (1996), Nr. 4, S. 1286.

[36]  BVerfGE 93, 1; siehe dazu die Chronik für 1995, ERPL/REDP, Vol. 8 (1996), Nr. 4, S. 1280 ff.

[37]  Sie ergibt sich aus Art. 4 Abs. 1 GG, Art. 3 Abs. 3 GG, Art. 33 Abs. 3 GG und Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 Abs. 1 und 4, Art. 137 Abs. 1 der Weimarer Reichsverfassung (vgl. bereits BVerfGE 19, 206, 216; 93, 1, 17 und jetzt BVerfGE 108, 282, 299).

[38]  Es folgt aus Art. 4 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG (vgl. BVerfGE 93, 1, 15 ff.).

[39]  Vgl. BVerfGE 108, 282 (301 f.).

[40]  Vgl. bereits BVerfGE 41, 29 (50); jetzt auch BVerfGE 108, 282 (300).

[41]  BVerfGE 108, 282 (300).

[42]  BVerfGE 108, 282 (300 f.).

[43]  Vgl. BVerfGE 93, 1.

[45]  Diesen Unterschied verkennen die Richter Jentsch/Di Fabio/Mellinghoff in ihrer abweichenden Meinung (BVerfGE 108, 314, 330 f.). Bedenken bestehen im übrigen gegen ihre Behauptung, das Kreuz sei "- über seine religiöse Bedeutung hinaus - ein allgemeines Kulturzeichen für eine aus jüdischen und christlichen Quellen gespeiste wertgebundene, aber offene und durch reiche, auch leidvolle historische Erfahrung tolerant gewordene Kultur". Dagegen spricht nicht nur, daß diese abendländische Kultur im wesentlichen erst infolge der Aufklärung und der durch sie ausgelösten Beschränkung des Einflusses von Kirche und Christentum tolerant geworden ist. Schwerer wiegt die in der Abqualifizierung des Kreuzes zum Kulturgegenstand liegende, mit dem Kreuz in der Schule sicherlich nicht beabsichtigte Banalisierung und Herabwürdigung des christlichen Glaubens (vgl. bereits die Chronik für 1995, ERPL/REDP, Vol. 8 [1996], Nr. 4, S. 1284). Auch in der Zweckentfremdung religiöser Symbole als allgemeiner Kulturgegenstand liegt eine - in diesem Falle gegen die Religion gerichtete - Verletzung der religiös-weltanschaulichen Neutralität.

[46]  BVerfGE 108, 282 (303); kritisch dazu Jentsch/Di Fabio/Mellinghoff in ihrer abweichenden Meinung, BVerfGE 108, 314 (325 f., 328 f.).

[47]  Siehe dazu näher BVerfGE 108, 282 (306 ff.).

[48]  Vgl. Jentsch/Di Fabio/Mellinghoff, BVerfGE 108, 314 (323 f., 325 f.).

[49]  Siehe zu diesem Grundsatz bereits die Chronik für 1998, ERPL/REDP, Vol. 11 (1999), Nr. 4, S. 1736 f. Das Bundesverfassungsgericht sprach von einem Grundsatz des Parlamentsvorbehaltes, meinte damit jedoch den (geringfügig enger zu verstehenden) Grundsatz des Gesetzesvorbehaltes.

[50]  Ständige Rechtsprechung, vgl. etwa BVerfGE 49, 89 (126 f.); aus der neueren Rechtsprechung BVerfGE 83, 130 (142, 152); 95, 267 (307).

[51]  BVerfGE 108, 282 (311 ff.). Darüber hinaus begründete das Gericht seine Forderung damit, daß eine Dienstpflicht, die es Lehrern verbietet, ihre Religionszugehörigkeit in ihrem äußeren Erscheinungsbild zu zeigen, nur dann verfassungsmäßig begründet und durchgesetzt werden kann, wenn die Angehörigen der unterschiedlichen Religionsgemeinschaften dabei gleich behandelt werden. Dies sei nicht in gleichem Maße gewährleistet, wenn es den Behörden und Gerichten überlassen bleibe, über das Bestehen und die Reichweite der Dienstpflicht von Fall zu Fall nach Maßgabe ihrer Prognosen über das Einfluß- und Konfliktpotenzial von religiösen Erkennungsmerkmalen im Erscheinungsbild der jeweiligen Lehrkraft zu entscheiden (BVerfGE 108, 282, 313). Was das Gericht damit im einzelnen sagen will, bleibt unklar. Die Passage läßt isoliert betrachtet vermuten, daß das Gericht eine detaillierte Regelung für erforderlich hält. Für eine derart weitreichende Aussage hätte es allerdings einer ausführlicheren Begründung bedurft.

[52]  BVerfGE 108, 282 (304 f.). Anderer Ansicht die Richter Jentsch, Di Fabio und Mellinghoff in ihrer abweichenden Meinung (BVerfGE 108, 314, 332 ff.).

[53]  BVerfGE 108, 282 (305 f.).

[54]  Vgl. Hufen, JuS 2003, 1220 (1223).

[55]  Vgl. BVerfGE 108, 282 (309 ff.).

[57]  BVerfGE 102, 347; siehe dazu bereits die Chronik für 1999/2000, ERPL/REDP, Vol. 13 (2001), Nr. 4, S. 1479 ff.

[58]  BVerfGE 107, 275 (283 ff.).

[60]  Vgl. bereits BVerfGE 53, 257 (296).

[61]  Vgl. bereits BVerfGE 87, 1 (36).

[62]  Vgl. bereits BVerfGE 52, 277 (281).

[64]  BVerfGE 108, 82 = NJW 2003, 2151; siehe dazu auch die Besprechung von Roth, NJW 2003, 3153.

[65]  Vgl. die passende Bezeichnung bei Schwenzer, Zeitschrift für das gesamte Familienrecht (= FamRZ) 1985, 1 (8); Roth, NJW 2003, 3153.

[66]  BVerfGE 108, 82 (Leitsatz 1 und S. 99 ff.).

[67]  BVerfGE 108, 82 (Leitsatz 2 und S. 112 ff.).

[68]  BVerfGE 108, 82 (99).

[69]  BVerfGE 108, 82 (101 f.).

[71]  Vgl. BVerfGE 108, 82 (103).

[72]  BVerfGE 108, 82 (100).

[73]  BVerfGE 108, 82 (100).

[74]  BVerfGE 108, 82 (104 f.).

[75]  BVerfGE 108, 82 (1055 ff.); vgl. auch bereits BVerfGE 38, 241 (255).

[76]  BVerfGE 108, 82 (109 f.).

[77]  Vgl. bereits BVerfGE 10, 59 (66); 18, 97 (105 f.); 79, 256 (267).

[79]  Art. 6 Abs. 1 GG gewährt nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts keinen Anspruch auf Begründung einer solchen Beziehung durch ein Recht auf Kontaktaufnahme zum Kind; siehe dazu kritisch Roth, NJW 2003, 3153. Die Mutter kann also die die Entstehung eines Umgangsrechts durch rechtzeitige Unterbindung sämtlicher Kontakte verhindern.

[80]  BVerfGE 108, 82 (112 f.).

[81]  Goldstein/Freud/Solnit, Jenseits des Kindeswohls, 1974/1991, S. 33 ff., zitiert in BVerfGE 108, 82 (113).

[84]  Siehe oben, 1.

[85]  BVerfGE 107, 299 = NJW 2003, 1787 = EuGRZ 2003, 280; siehe dazu auch die Anmerkung und Besprechung von Sachs, JuS 2003, 1213 und Kugelmann, NJW 2003, 1777.

[86]  BVerfGE 107, 299 (Leitsatz 1 und S. 312 ff.).

[87]  Vgl. BVerfGE 107, 299 (313 f.).

[88]  Siehe zum Verhältnismäßigkeitsprinzip bereits die Chroniken für 1994, 1995, 1998 und 1999, ERPL/REDP, Vol. 7 (1995), Nr. 4, S. 1128, 1133 f., Vol. 8 (1996), Nr. 4, S. 1274, Vol. 11 (1999), Nr. 4, S. 1732, Vol. 13 (2001), Nr. 4, S. 1486.

[89]  BVerfGE 107, 299 (318 ff.).

[90]  BVerfGE 107, 299 (Leitsatz 3 und S. 321 ff.).

[91]  Siehe dazu BVerfGE 107, 299 (326 ff.).

[92]  BVerfGE 107, 299 (323 ff.).

[93]  BVerfGE 107, 299 (329 f.).

[94]  Vgl. BVerfGE 107, 299 (331). Dem Redaktionsgeheimnis kommt neben dem Vertrauensverhältnis der Medien zu ihren Informanten eigenständige Bedeutung zu, vgl. bereits BVerfGE 66, 116 (133 ff.).

[95]  Vgl. BVerfGE 107, 299 (331 ff.).

[96]  BVerfGE 107, 395 = NJW 2003, 1934 = EuGRZ 2003, 273; siehe dazu auch die Anmerkung und Besprechung von Sachs, JuS 2003, 914 und Voßkuhle, NJW 2003, 2193.

[97]  BVerfGE 108, 341 = NJW 2003, 3687.

[98]  Das Verfahren nach § 16 BVerfGG dient der Sicherung der Einheit der Rechtsprechung. Es ist deswegen nur erforderlich, wenn ein Senat von einer Entscheidung des anderen abweichen will und dieser - wie hier der Zweite Senat - auf Anfrage erklärt, daß er an seiner Rechtsauffassung festhalte (vgl. § 48 Abs. 2 der Geschäftsordnung des Bundesverfassungsgerichts). In der Geschichte des Bundesverfassungsgerichts sind bisher erst vier Plenarbeschlüsse nach § 16 BVerfGG ergangen (BVerfGE 4, 27; 54, 277; 95, 322 und jetzt 107, 395). Es ist aber durchaus vorgekommen, daß ein Senat bewußt oder unbewußt zu einem von einer vorliegenden Rechtsprechung abweichenden Ergebnis gelang ist, ohne eine Plenarentscheidung herbeizuführen, vgl. Benda/Klein, Verfassungsprozeßrecht, 2. Aufl. 2001, Rdnr. 150 mit Nachweisen.

[99]  Vgl. BVerfGE 15, 275 (280); 49, 329 (340); 65, 76 (90).

[100]  Vgl. statt vieler etwa Krüger/Sachs, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 3. Aufl. 2003, Art. 19 Rdnr. 120; Papier, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band VI, 1989, § 154 Rdnr. 37; anderer Ansicht z.B. Ibler, in: Friauf/Höfling (Hrsg.), Berliner Kommentar zum Grundgesetz (Loseblattkommentar), Stand 2002, Art. 19 IV Rdnr. 90 ff.; ausführliche Nachweise zum Streitstand in BVerfGE 107, 395 (403).

[101]  Siehe dazu BVerfGE 107, 395 (404 f.).

[102]  Siehe zum Justizgewährungsanspruch bereits die Chronik für 1996, ERPL/REDP, Vol. 10 (1998), Nr. 1, S. 218 f.

[103]  BVerfGE 107, 395 (407); kritisch zur Verlagerung der Rechtsschutzproblematik Voßkuhle, NJW 2003, 2193 (2196).

[104]  Vgl. BVerfGE 88, 118 (123); 93, 99 (107).

[105]  BVerfGE 107, 395 (407).

[106]  Vgl. BVerfGE 107, 395 (395, 401); vgl. auch BVerfGE 108, 341 (341, 347).

[107]  BVerfGE 107, 395 (408).

[108]  BVerfGE 107, 395 (410 f.).

[109]  Vgl. BVerfGE 107, 395 (413 ff.).

[110]  Kritisch dazu Voßkuhle, NJW 2003, 2193 (2197).

[111]  BVerfGE 107, 395 (411 ff.).

[112]  BVerfGE 107, 395 (416).

[113]  Voßkuhle, NJW, 2003, 2193 (2198, 2914) unter Hinweis auf frühere Entscheidungen wie BVerfGE 49, 253 (259 f.); 73, 322 (329).

[114]  Vgl. BVerfGE 107, 395 (417).

[115]  Vgl. bereits BVerfGE 5, 85 (141).

[116]  Siehe das Verbot der rechtsrextremen Sozialistischen Reichspartei (SRP) im Jahre 1952 (BVerfGE 2, 1) und das Verbot der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) im Jahre 1956 (BVerfGE 5, 85).

[117]  BVerfGE 107, 339 = NJW 2003, 1577 = EuGRZ 2003, 291; siehe dazu auch die Anmerkungen und Besprechungen von Ipsen, JZ 2003, 485; Sachs, JuS 2003, 809; Michaelis, NVwZ 2003, 943 und Rensmann, German Law Journal 4 (2003), Nr. 11.

[118]  Siehe BVerfGE 104, 63. Mit diesem in § 45 BVerfGG vorgesehen Beschluß wird ein für das Parteiverbotsverfahren vorgeschriebenes Vorverfahren abgeschlossen, in dem das Gericht dem Vertretungsberechtigten der Partei Gelegenheit zur Äußerung gibt und prüft, ob der Antrag unzulässig oder nicht hinreichend begründet ist.

[119]  In den Parteivorständen der NPD auf Ebene der Länder waren durchschnittlich ein bis zwei Mitglieder V‑Personen der Verfasungsschutzbehörden (BVerfGE 107, 339, 373).

[120]  BVerfGE 107, 339 (356 f.).

[122]  BVerfGE 107, 339 (360 ff., 378 ff.).

[123]  Beachte den Hinweis in BVerfGE 107, 339 (360).

[125]  Vgl. BVerfGE 107, 339 (364).

[126]  BVerfGE 107, 339 (365).

[128]  BVerfGE 107, 339 (379 f.).

[129]  BVerfGE 107, 339 (382).

[131]  BVerfGE 107, 339 (385 f.).

[132]  BVerfGE 107, 339 (388).

[133]  Vgl. BVerfGE 107, 339 (390 ff.).

 

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