Chronik der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts - 2001/02 (2)

01.10.05

(= ERPL/REDP 15 [2003], S. 1399 [1428 ff.])

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III. Staatsorganisation und Staatsfunktionen

[I. Vorbemerkung (2001/02-1)] [II. Grundrechte und grundrechtsgleiche Rechte (2001/02-1)] [IV. Finanzverfassung]

1) Gesetzgebungsrecht des Bundes bei der konkurrierenden Gesetzgebung

Ähnlich wie die Gründungsverträge der Europäischen Union unterscheidet auch die bundesstaatliche Kompetenzordnung des Grundgesetzes zwischen ausschließlichen und konkurrierenden Kompetenzen des föderalen Verbandes auf dem Gebiet der Gesetzgebung.[116] Im Bereich der ausschließlichen Gesetzgebung des Bundes (vgl. Art. 73 GG) haben die Länder die Befugnis zur Gesetzgebung nur, wenn und soweit sie hierzu in einem Bundesgesetz ausdrücklich ermächtigt werden (Art. 71 GG). Im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung (vgl. Art. 74 GG) dürfen sie Gesetze erlassen, solange und soweit der Bund von seiner Gesetzgebungszuständigkeit nicht Gebrauch gemacht hat (Art. 72 Abs. 1 GG). Letzteres ist allerdings in großem Umfang der Fall. Um eine zu weitgehende Verdrängung der Länder zu vermeiden, knüpft das Grundgesetz die Wahrnehmung der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz durch den Bund in Art. 72 Abs. 2 GG an Bedingungen. Nach der ursprünglichen Fassung hatte der Bund in diesem Bereich das Gesetzgebungsrecht, soweit ein "Bedürfnis nach bundesgesetzlicher Regelung" bestand, weil  (1.) eine Angelegenheit durch die Gesetzgebung einzelner Länder nicht wirksam geregelt werden konnte oder  (2.) die Regelung einer Angelegenheit durch ein Landesgesetz die Interessen anderer Länder oder der Gesamtheit beeinträchtigen konnte oder  (3.) die Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit, insbesondere die Wahrung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnise über das Gebiet eines Landes hinaus sie erforderte. Diese Regelung hatte die gleiche Funktion wie das Subsidiaritätsprinzip (Art. 5 Abs. 2 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft) in der Europäischen Union. Bezeichnenderweise wurde sie vom Bundesverfassungsgericht gleichermaßen "zurückhaltend" angewandt wie das Subsidiaritätsprinzip vom Europäischen Gerichtshof.[117] Die Frage, ob ein Bedürfnis nach bundesgesetzlicher Regelung bestehe, sei eine Frage des pflichtgemäßen Ermessens des Bundesgesetzgebers, die ihrer Natur nach nicht justiziabel und daher der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich entzogen sei.[118] Besonders leicht konnte der Bundesgesetzgeber ein Bedürfnis nach bundesgesetzlicher Regelung zur Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit begründen.

Bei der Verfassungsreform von 1994 setzten die Länder schließlich eine Neufassung des Art. 72 Abs. 2 GG durch. Seitdem hat der Bund das Gesetzgebungsrecht im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung nur noch, "wenn und soweit die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet oder die Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse eine bundesgesetzliche Regelung erforderlich macht". Zwar bleibt der weite Begriff der "Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit". Auch mag der unbestimmte Rechtsbegriff des "gesamtstaatlichen Interesses" bei großzügiger Auslegung an einen fortbestehenden Beurteilungsspielraum des Gesetzgebers denken lassen. Bei der "Erforderlichkeit" handelt es sich jedoch um einen geläufigen Begriff des Verfassungsrechts, an dessen Eindeutigkeit und Justiziabilität gemeinhin keine Zweifel bestehen. Dennoch wurde der ersten großen Entscheidung zu Art. 72 Abs. 2 in seiner neuen Fassung mit Spannung entgegengesehen. Denn schließlich weiß man auch aus der Erfahrung in anderen föderalen Verbänden, daß die Gerichte, welche zur Wahrung der Kompetenzordnung berufen sind, nicht zuletzt deswegen, weil sie selbst auf der Ebene des föderalen Verbandes angesiedelt sind, ein erstaunliches Maß an Zurückhaltung ‑ oder auch Kreativität ‑ zeigen können, um die Kompetenzordnung "großzügig" zugunsten der föderalen Ebene anzuwenden.

Eine Entscheidung vom 24. Oktober 2002 zum Altenpflegegesetz [119] setzte jetzt unerwartet deutliche Signale. Sie enthält zunächst eine sorgfältige Prüfung verschiedener Kompetenztitel in Art. 74 Abs. 1 GG,[120] denn nur, wenn sich der Bund auf einen solchen Titel stützen kann, stellt sich überhaupt die Frage der Erforderlichkeit nach Art. 72 Abs. 2 GG. Anschließend klärt sie die Begriffe in Art. 72 Abs. 2 GG[121] und subsumiert dann ausführlich unter sie[122]. Bei der Auslegung der neugefaßten Vorschrift ließ das Gericht keine Zweifel daran, daß es die Verfassungsänderung ernst nahm. Die Kernaussage: Ein der verfassungsgerichtlichen Kontrolle entzogener freier gesetzgeberischer Beurteilungsspielraum besteht hinsichtlich der dort genannten Voraussetzungen nicht.[123]

Das Gericht betonte zunächst die Funktion des Art. 72 Abs. 2 GG als einer Kompetenzausübungsregelung, die als zusätzliche Schranke neben das Erfordernis eines Kompetenztitels tritt. Die Norm könne ihrer Stellung im System des Grundgesetzes, ihrem Sinn und dem Willen des Verfassunggebers nur gerecht werden, wenn ihre Voraussetzungen nicht subjektiv von demjenigen bestimmt werden dürften, dessen Kompetenzausübung beschränkt werden solle.[124] Dies kann als eine vorsichtige Distanzierung von der Rechtsprechung zur alten Fassung des Art. 72 Abs. 2 GG angesehen werden.[125]

Maßgeblich stützte sich das Gericht indessen auf die Entstehungsgeschichte der neuen Fassung. Sie belege, daß der verfassungsändernde Gesetzgeber das Ziel verfolgt habe, die Position der Länder zu stärken und zugleich eine effektive verfassungsgerichtliche Überprüfung sicherzustellen. In der Grundgesetzänderung könne eine klare Anweisung des verfassungsändernden Gesetzgebers an das Bundesverfassungsgericht gesehen werden, seine bisherige, als korrekturbedürftig bewertete Rechtsprechung zu ändern.[126] Der Wille des verfassungsändernden Gesetzgebers gehe dahin, die Erforderlichkeitsklausel justiziabel zu machen und dem Gesetzgeber keinen Beurteilungsspielraum zu lassen.[127] Ergänzend machte das Gericht geltend, daß sonst Art. 93a Abs. 1 Nr. 2a GG leerliefe, der die Antragsberechtigung für abstrakte Normenkontrollen auf den Bundesrat und die Landesparlamente ausweitet, die von diesen Anstragsberechtigten eingeleiteten Normenkontrollverfahren aber auf die Überprüfung der Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG beschränkt.[128]

Art. 72 Abs. 2 GG kennt zwei Fallgruppen, in denen der Bund tätig werden darf: bei Erforderlichkeit zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnise und bei Erforderlichkeit zur Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse. Das Bundesverfassungsgericht sprach von drei möglichen Zielen (Wahrung der Rechts- und Wirtschaftseinheit getrennt betrachtet) und forderte nebulös, deren Konkretisierung müsse sich "am Sinn der besonderen bundesstaatlichen Integrationsinteressen orientieren".[129] Auch sonst waren Gedankenführung und Sprachstil hier teilweise verworren. Jedenfalls läßt sich festhalten, daß die Zielsetzung der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse nach Ansicht des Gerichts noch nicht gegeben ist, wenn es lediglich darum geht, bundeseinheitliche Regelungen in Kraft zu setzen. Die föderale "Gleichwertigkeit" ist von der nivellierenden "Einheitlichkeit" der Lebensverhältnisse zu unterscheiden, von der in der alten Fassung des Art. 72 Abs. 2 GG die Rede war. Der Bundesgesetzgeber darf erst dann eingreifen, wenn sich die Lebensverhältnisse in den Ländern in erheblicher, das bundesstaatliche Sozialgefüge beeinträchtigender Weise auseinander entwickelt haben oder sich eine derartige Entwicklung konkret abzeichnet. Das Bundesverfassungsgericht verlangte zudem, daß der Gesetzgeber eine fundierte Einschätzung auf der Grundlage sorgfältig ermittelter Tatsachen trifft.[130] Das könnte - ernst genommen - zu einem erheblichen Begründungsaufwand führen, wie er von der Anwendung des Subsidiaritätsprinzips in der Europäischen Union bekannt ist.[131]

Auf das Ziel der Wahrung der Rechtseinheit im gesamtstaatlichen Interesse kann sich der Bundesgesetzgeber nicht schon dann berufen, wenn es eine Vielfalt unterschiedlicher Regelungen in den Ländern gibt. Die Gesetzesvielfalt muß vielmehr eine Rechtszersplitterung mit problematischen Folgen darstellen, die im Interesse sowohl des Bundes als auch der Länder nicht hingenommen werden kann.[132] Bei der Wahrung der Wirtschaftseinheit geht es um die Erhaltung der Funktionsfähigkeit des Wirtschaftsraumes der Bundesrepublik. Die bundeseinheitliche Rechtsetzung steht hier im gesamtstaatlichen Interesse, wenn die Unterschiede oder das Fehlen landesrechtlicher Regelungen erhebliche Nachteile für die Gesamtwirtschaft mit sich bringen.[133]

Erforderlich ist die bundesgesetzliche Regelung nur, soweit das Ziel ohne sie nicht oder nicht ausreichend erreicht werden kann. Mit dieser Voraussetzung wird der Bund auf den geringstmöglichen Eingriff in das Gesetzgebungsrecht der Länder verwiesen. Dabei ist allerdings die Prärogative des Bundesgesetzgebers für Konzept und Ausgestaltung seines Gesetzes zu beachten. Wenn er ein Konzept gewählt hat, das nach Ziel und Wirkung im Sinne des Art. 72 Abs. 2 GG erforderlich ist, können Teile des Konzeptes nur dann als zu regelungsintensiv herausgenommen werden, wenn das Gesamtkonzept - und damit die Wirkung des Gesetzes - ohne sie nicht gefährdet wird.[134] 

Das Bundesverfassungsgericht hob hervor, daß es die Tatsachenfeststellungen des Gesetzgebers zur Frage der Erforderlichkeit überprüfen kann. Dies gelte auch für Feststellungen, welche die Grundlage für Prognoseentscheidungen bildeten. Das Gericht leugnete nicht den Prognosespielraum des Gesetzgebers, stellte aber Anforderungen an die Prognose: sorgfältige Sachverhaltsermittlung, methodisch angemessenes und konsequent verfolgtes Prognoseverfahren, deutliche Offenlegung der die Prognose tragenden Gesichtspunkte und kein Einfluß sachfremder Erwägungen. Soweit im übrigen Unsicherheiten der Prognose durch gesicherte empirische Daten und verläßliche Erfahrungssätze ausgeräumt werden können, scheidet ein Prognosespielraum aus.[135]

Das Urteil vom 24. Oktober 2002 stellte eine scharfe Kontrolle der bundesstaatlichen Erforderlichkeit der Gesetzgebungstätigkeit des Bundes im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung in Aussicht. Diese könnte das föderale Gleichgewicht zwischen Bund und Ländern spürbar verändern. Gegen die Auslegung des Bundesverfassungsgerichts ist aus verfassungsrechtlicher Sicht nichts einzuwenden; der Begriff der "Erforderlichkeit" wird nicht anders gehandhabt als in anderen verfassungsrechtlichen Zusammenhängen wie etwa bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit. Allerdings könnte Art. 72 Abs. 2 GG in dieser konsequenten Anwendung sowohl wegen der materiellen Einschränkungen als auch wegen der starken Begründungsanforderungen zu einer unerträglichen Behinderung des Bundesgesetzgebers führen. Dann ergäbe sich die verfassungspolitische Forderung nach einer erneuten Verfassungsänderung. Es bleibt indessen abzuwarten, ob die angekündigte Kontrolle auch in der Praxis so scharf ausfallen wird. Die Verfassungsmäßigkeitskontrolle der Gesetze unter allen verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten gehört zur alltäglichen Arbeit des Bundesverfassungsgerichts - auch bei der Entscheidung über die ca. 4.500 Verfassungsbeschwerden im Jahr. Eine scharfe Kontrolle der bundesstaatlichen Erforderlichkeit (die noch keine Rückschlüsse auf die Erforderlichkeit von Grundrechtseingriffen zuläßt), würde die Belastung des Gerichts erheblich erhöhen.

2) Mitwirkung des Bundesrates bei der Gesetzgebung

a) Die bereits vorgestellte Entscheidung zur eingetragenen Lebenspartnerschaft für gleichgeschlechtliche Paare [136] ist auch aus staatsorganisationsrechtlicher Sicht interessant. Der Bundestag hatte wichtige Ausführungsregelungen zum Lebenspartnerschaftsgesetz in einem gesonderten "Lebenspartnerschaftsergänzungsgesetz" verabschiedet. Er wollte mit einer Aufspaltung der Gesamtregelung in verschiedene Gesetze verhindern, daß die Einführung des neuen Rechtsinstitutes am Widerstand des Bundesrates scheiterte. Das Bundesverfassungsgericht hatte dagegen keine Einwände.[137]

Nach der Kompetenzordnung des Grundgesetzes führen grundsätzlich die Länder die Bundesgesetze als eigene Angelegenheit aus (Art. 83 GG). Dabei regeln sie die Einrichtung der Behörden und das Verwaltungsverfahren, soweit nicht Bundesgesetze mit Zustimmung des Bundesrates etwas anderes bestimmen (Art. 84 Abs. 1 GG). In der Praxis enthalten allerdings die meisten Bundesgesetze Zuständigkeits- oder Verfahrensregelungen und bedürfen daher der Zustimmung des Bundesrates. Häufig kommen sie deswegen erst nach mühseligen Kompromißverhandlungen und Einschaltung des Vermittlungsausschusses (Art. 77 Abs. 2 GG) zustande. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erstreckt sich das Zustimmungserfordernis auf das ganze Gesetz als gesetzgebungstechnische Einheit. Schon eine einzige verfahrensrechtliche Regelung macht damit auch die materiell-rechtlichen Regelungen vom Willen des Bundesrates abhängig.[138] 

Da der Bundesrat aus Mitgliedern der Regierungen der Länder besteht (Art. 51 GG)[139], können diese so erheblichen Einfluß auf die Bundespolitik nehmen. Seit einigen Jahren verfügen die von den Regierungsparteien gestellten Landesregierungen nicht mehr über die Mehrheit der Stimmen im Bundesrat und nutzen die Oppositionsparteien diese Situation, um Gesetzesvorhaben der Regierungskoalition zu vereiteln; in den späten neunziger Jahren gab es die gleiche Konstellation zugunsten der damaligen Opposition. Aus der vertikalen Gewaltenteilung, einem freiheitssichernden Vorzug des Bundesstaates, ist so eine vertikale Gewaltenblockade geworden, die den Bundesstaat schwerfällig macht; in den Medien wird von einer "blockierten Republik" gesprochen. Auch die Einführung des Instituts der eingetragenen Lebenspartnerschaft wäre gescheitert, wenn der Bundestag nicht von der verbreiteten Praxis abgewichen wäre und die unter den Zustimmungsvorbehalt fallenden Regelungen formal verselbständigt hätte. Das "Lebenspartnerschaftsergänzungsgesetz" fand später nicht die Zustimmung des Bundesrates und beschäftigte zum Zeitpunkt der Entscheidung den Vermittlungsausschuß.[140] Das Bundesverfassungsgericht stellte jetzt klar, daß die Vorsichtsmaßnahme des Bundestages weder Art. 84 Abs. 1 GG verletzte noch die materiell-rechtlichen Regelungen zur Lebenspartnerschaft zustimmungspflichtig werden ließ.

Der Bundestag darf in Ausübung seiner gesetzgeberischen Freiheit ein Gesetzgebungsvorhaben auf mehrere Gesetze verteilen. Er darf auch noch im laufenden Gesetzgebungsverfahren die materiell-rechtlichen Bestimmungen in einem Gesetz zusammenfassen (gegen das der Bundesrat nur Einspruch erheben kann) und das Verwaltungsverfahren in einem anderen (zustimmungsbedürftigen) Gesetz regeln. Damit wird weder das Recht der Länder zur Mitwirkung an der Bundesgesetzgebung unzulässig eingeschränkt noch das verfassungsrechtlich zugewiesene Gewicht von Bundestag und Bundesrat bei der Gesetzgebung verschoben.[141] Die Länder erfahren so auch keinen Kompetenzverlust; vielmehr orientiert der Bund die Gestaltung seiner Gesetzgebung gerade an der verfassungsrechtlichen Kompetenzverteilung zwischen ihm und den Ländern. Die Vorgehensweise ist auch nicht mißbräuchlich, denn unter der bisher angenommenen Voraussetzung, daß ein Gesetz schon dann insgesamt zustimmungsbedürftig wird, wenn es nur eine einzige zustimmungsbedürftige Vorschrift enthält,[142] ist die Aufteilung gerade ein legitimer Weg, einer ausgreifenden Erstreckung der Zustimmungsbedürftigkeit von Gesetzen zu begegnen und dem gewählten Parlament die Realisierung seines Gesetzesvorhabens zu ermöglichen.[143] Mit dieser Argumentation mahnte das Bundesverfassungsgericht zur Rückbesinnung darauf, daß nach der Konzeption des Grundgesetzes die Abhängigkeit eines Gesetzes vom Willen des Bundesrates die Ausnahme bildet. Nicht die Trennung sondern die zur Gewohnheit gewordene Verbindung materiell-rechtlicher und verfahrensrechtlicher Regelungen ist im Hinblick auf die Vorstellung des Grundgesetzes von der Rollenverteilung bei der Gesetzgebung bedenklich.

b) Mit einem Urteil vom 18. Dezember 2002[144] endete der Streit über die Abstimmung im Bundesrat zum Zuwanderungsgesetz. Die Öffentlichkeit hatte den Streit aufmerksam verfolgt, denn er war unterhaltsam und von den Medien gut aufbereitet worden. Fernsehen und Internet hatten Videoaufnahmen der Abstimmung gezeigt. Hintergrundinformationen, Kommentare und Interviews mit Staatsrechtslehrern hatten die Problematik einem breiten Publikum erschlossen. Eine ausführliche Stellungnahme des Bundespräsidenten, der das umstrittene Gesetz schließlich ausfertigte und verkündete,[145] die rasche Einleitung eines abstrakten Normenkontrollverfahrens durch sechs Landesregierungen und die zügige Durchführung des Verfahrens durch das Bundesverfassungsgericht hatten das Interesse aufrechterhalten.

Im März 2002 kam es bei der Abstimmung über ein zustimmungsbedürftiges Gesetzesvorhaben entscheidend auf die Stimmen des Landes Brandenburg an. Brandenburg wurde von einer Koalitionsregierung der Parteien CDU und SPD regiert, die sich im Bund als Regierungs- und Oppositionspartei gegenüberstehen und auch zur Frage der Zuwanderung von Ausländern gegensätzliche Positionen vertreten. Nach Art. 51 Abs. 3 S. 1 GG kann jedes Land mehrere Vertreter in den Bundesrat entsenden. Nach Art. 51 Abs. 3 S. 2 GG können die Stimmen eines Landes jedoch nur einheitlich abgegeben werden. Dazu hat sich die Praxis herausgebildet, daß ein sogenannter Stimmführer alle Stimmen seines Landes abgibt. An der Abstimmung zum Zuwanderungsgesetz beteiligten sich jedoch zwei brandenburgische Bundesratsmitglieder, und zwar mit einem widersprüchlichen Verhalten, das der Präsident des Bundesrates schließlich nach einer Nachfrage beim Ministerpräsidenten als Zustimmung bewertete. Die Ministerpräsidenten einiger Länder, die gegen das Gesetz gestimmt hatten, protestierten hartnäckig und empört, doch der Bundesratspräsident blieb bei seiner Entscheidung. Später stellte sich heraus, daß er auf das brandenburgische Abstimmungsverhalten vorbereitet gewesen war und im übrigen gegen den Rat der Bundesratsverwaltung gehandelt hatte. Ebenso wurde bekannt, daß die "empörten" Ministerpräsidenten ihre Reaktion vorher genau geplant und abgesprochen hatten. Tatsächlich erheben sich Zweifel an der Spontaneität des Geschehens, wenn man den Stenographischen Bericht zur Bundesratssitzung liest.[146] Läßt man den Text mit verteilten Rollen von verschiedenen Sprechern in der Staatsrechtsvorlesung vortragen, glaubt man sich in ein gut inszeniertes Theaterstück versetzt.

Im Stenographischen Bericht wird der für die rechtliche Beurteilung maßgebliche Teil des Vorganges wie folgt wiedergegeben:[147]

Präsident Klaus Wowereit:
Wir kommen zur Abstimmung. ... Ich bitte den Schriftführer, die Länder aufzurufen.

Dr. Manfred Weiß (Bayern), Schriftführer:
Baden-Württemberg  Enthaltung
Bayern  Nein
Berlin Ja

Brandenburg
Alwin Ziel (Brandenburg): Ja!
Jörg Schönbohm (Brandenburg): Nein!

Präsident Klaus Wowereit: Damit stelle ich fest, dass das Land Brandenburg nicht einheitlich abgestimmt hat. Ich verweise auf Artikel 51 Absatz 3 Satz 2 Grundgesetz. Danach können Stimmen eines Landes nur einheitlich abgegeben werden.
Ich frage Herrn Ministerpräsidenten Stolpe, wie das Land Brandenburg abstimmt.

Dr. h.c. Manfred Stolpe (Brandenburg): Als Ministerpräsident des Landes Brandenburg erkläre ich hiermit Ja.
(Jörg Schönbohm [Brandenburg]: Sie kennen meine Auffassung, Herr Präsident!)

Präsident Klaus Wowereit: Damit stelle ich fest, dass das Land Brandenburg mit Ja abgestimmt hat.
[Es folgen die empörten Proteste der Ministerpräsidenten.]

Einen solchen Vorgang hatte es im Bundesrat seit einer "Panne" von 1949, die durch eine Klarstellung des Ministerpräsidenten behoben werden konnte, nicht gegeben. In der Lehre war man sich über die Folgen einer widersprüchlichen Stimmabgabe nicht einig: Nach Ansicht einiger Autoren kam es maßgeblich auf die Stimme des Ministerpräsidenten an,[148] nach der herrschenden Meinung waren alle abgegebenen Stimmen des Landes ungültig.[149] Zudem war problematisch, ob und inwiefern der Bundesratspräsident nachfragen darf, um eine einheitliche Stimmabgabe zu erreichen.

Das Bundesverfassungsgericht erinnerte zunächst daran, daß der Bundesrat nach Art. 51 Abs. 1 GG nicht aus den Ländern sondern aus Mitgliedern der Landesregierungen besteht. Die Länder wirken also nur vermittelt durch die von ihnen bestellten Bundesratsmitglieder an der Gesetzgebung des Bundes mit. Die Bundesratsmitglieder dürfen zwar an Weisungen gebunden werden, doch sind diese nur landesintern von Bedeutung. Die Praxis der gesammelten Stimmabgabe durch Stimmführer ist zulässig, kann aber jederzeit durch Widerspruch oder abweichendes Stimmverhalten eines anderen Bundesratsmitgliedes desselben Landes unterbrochen werden.[150] 

Das Gericht zog aus den eindeutigen Erklärungen der Bundesratsmitglieder Ziel und Schönbohm den naheliegenden Schluß, daß die Abgabe der Stimmen beim Aufruf des Landes Brandenburg uneinheitlich war. Der Bundesratspräsident habe dies zutreffend unmittelbar nach der Stimmabgabe festgestellt. Die Uneinheitlichkeit sei indessen durch den weiteren Abstimmungsverlauf nicht beseitigt worden. Der Bundesratspräsident sei nämlich nicht berechtigt gewesen, nach der Feststellung der uneinheitlichen Stimmabgabe den Ministerpräsidenten zu fragen, wie sein Land abstimme.[151] Das Gericht räumte ein, daß der Bundesratspräsident bei unklarer Abstimmung eine Klärung herbeiführen und auf eine wirksame Abstimmung des Landes hinwirken darf. Dies entspreche seiner Pflicht als unparteiischer Sitzungsleiter, dem es obliege, den Willen des Bundesrates im Gesetzgebungsverfahren klar festzustellen. Das Recht zur Nachfrage entfalle allerdings, wenn ein einheitlicher Landeswille erkennbar nicht bestehe und nach den gesamten Umständen nicht zu erwarten sei, daß er noch während der Abstimmung zustandekomme. Dies war hier nach der Deutung des Sachverhaltes durch das Bundesverfassungsgericht der Fall. Danach bestand von vornherein Klarheit über den Dissens.[152] In einer solchen atypischen Situation müsse sich der Bundesratspräsident als Sitzungsleiter auf die Protokollierung der Uneinheitlichkeit beschränken.[153] 

Das Gericht wollte die Rückfrage an den Ministerpräsidenten auch nicht damit rechtfertigen, daß dieser nach der Landesverfassung die Richtlinien der Politik bestimmt und insofern gegenüber den anderen Bundesratsmitgliedern seines Landes eine herausgehobene Stellung hat. Rangverhältnisse des Landesverfassungsrechts spielen auf der Bundesebene und damit auch im Bundesrat keine Rolle. Das Gericht erteilte damit in Übereinstimmung mit der herrschenden Meinung in der Literatur allen Vorstellungen, daß im Zweifel auf den Ministerpräsidenten als "geborenen Stimmführer " abzustellen sei, eine Absage.[154] Art. 51 Abs. 3 GG ist also aus sich selbst heraus und nicht in Ansehung des jeweiligen Landesverfassungsrechts zu interpretieren. Schließlich wandte sich das Gericht gegen eine Auslegung, nach der Art. 51 Abs. 3 die Bundesratsmitglieder des Landes rechtlich zu einer einheitlichen Stimmabgabe verpflichtet: Er verbiete es lediglich, einen gespaltenen Landeswillen im Abstimmungserebnis des Bundesrates durch Aufteilung der Stimmen des Landes zu berücksichtigen. Eine uneinheitliche Stimmabgabe ist also ungültig aber nicht verfassungswidrig.[155] Der Bundesratspräsident muß (und darf) sich nicht an den Ministerpräsidenten wenden, um einen (vermeintlichen) Verfassungsbruch zu verhindern. Damit war die Erklärung des brandenburgischen Ministerpräsidenten nicht mehr als eine weitere brandenburgische Stimmabgabe, die zum einen nicht mehr berücksichtigt werden durfte und zum anderen ebenso wie die des Bundesratsmitglieds Ziel im Widerspruch zu der des Bundesratsmitglieds Schönbohm stand. Der Dissens bestand fort, was durch die weitere Äußerung Schönbohms ("Sie kennen meine Auffassung, Herr Präsident") lediglich bestätigt wurde. Die brandenburgischen Stimmen durften insgesamt nicht mitgezählt werden. Der Bundesrat hatte dem Zuwanderungsgesetz damit nicht zugestimmt.

Die Richterinnen Osterloh und Lübbe-Wolff[156] gingen hingegen davon aus, daß der Bundesratspräsident mit seiner Nachfrage zulässigerweise einen neuen Abstimmungsdurchgang eröffnet hatte, in dem es nicht mehr auf das Stimmverhalten im ersten Durchgang sondern darauf ankam, ob das Land nunmehr einheitlich stimmen werde. Dies sei dann durch das klare "Ja" des Ministerpräsidenten geschehen, dem das Bundesratsmitglied Schönbohm keine klar als Stimmabgabe identifizierbare Äußerung mehr entgegengesetzt habe. Wegen des uneinheitlichen Stimmverhaltens sei im ersten Durchgang noch keine Stimmabgabe erfolgt und der Bundesratspräsident habe nachfragen dürfen, um dem Land noch die Stimmabgabe zu ermöglichen. Gehe man von einer erfolgten aber ungültigen Stimmabgabe aus, habe das Land jedenfalls das Recht zur Korrektur dieser Stimmabgabe gehabt. Das Land habe von dieser Möglichkeit - wenn auch nicht auf eigene Initiative sondern auf die Nachfrage des Bundesratspräsidenten - Gebrauch gemacht.

Die Richterinnen spielten in ihrer Argumentation herunter, daß der Bundesratspräsident nicht allgemein dem Land Brandenburg bzw. den brandenburgischen Bundesratsmitgliedern die erneute Gelegenheit zur Abstimmung gegeben hatte, sondern gezielt den Ministerpräsidenten gefragt hatte, wie das Land Brandenburg abstimmen werde. Dessen Äußerung als eine Korrektur des vorherigen Abstimmungsverhaltens anzusehen, ist schon deswegen fragwürdig, weil hier ein Dritter handelte, der in seiner Eigenschaft als Bundesratsmitglied keinen höheren Status als seine beiden Kollegen genoß[157]. Eine Korrektur hätte wohl nur durch alle Bundesratsmitglieder des Landes gemeinsam oder durch eines der Bundesratsmitglieder mit erkennbarer Billigung aller anderen erfolgen können.

Berechtigt ist indessen die Kritik an der These, daß der Bundesratspräsident nicht nachfragen dürfe, wenn ein einheitlicher Landeswille erkennbar nicht bestehe und nicht mehr zu erwarten sei.[158] Wenn das Grundgesetz eine einheitliche Stimmabgabe verlangt, kann es dem Bundesratspräsidenten nicht verwehrt sein, auf ein einheitliches Stimmverhalten hinzuwirken, solange dadurch kein unzulässiger Druck ausgeübt oder das Abstimmungsverhalten in der Sache beeinflußt wird. Insbesondere dürfte es dem Geist des Art. 51 Abs. 3 S. 2 GG entsprechen, durch Hinweis und Nachfrage sicherzustellen, daß eine uneinheitliche Stimmabgabe wenn überhaupt nur eindeutig und im Bewußtsein der Konsequenzen erfolgt. Schließlich ist die uneinheitliche Stimmabgabe nach dem Grundgesetz der ungewollte ‑ wenn auch nicht verfassungsrechtlich verbotene - Ausnahmefall. Nach hiesiger Auffassung hätte der Bundesratspräsident also auch im vorliegenden Fall zumindest einmal nachfragen und eine Klarstellung oder neue Stimmabgabe anregen dürfen. Ob dies zu einem anderen Abstimmungsergebnis geführt hätte, erscheint allerdings angesichts des Beharrens des Bundesratsmitglieds Schönbohm auf seiner Position zweifelhaft. Seine Äußerung "Sie kennen meine Auffassung, Herr Präsident" dürfte entgegen der Ansicht der Richterinnen Osterloh und Lübbe-Wolff[159] als klares "Nein" auszulegen sein.

Der Streit über die Abstimmung zum Zuwanderungsgesetz hat verdeutlicht, wie in bestimmten politischen Konstellationen selbst farblose Verfahrensvorschriften des Staatsorganisationsrechts zu interessanten Fällen führen können, die eine breite Öffentlichkeit ansprechen. Weitere Fälle mit Bezug zu Art. 51 Abs. 3 GG sind allerdings nach den Erfahrungen von 2002 in nächster Zeit nicht zu erwarten.

3) Rechtsprechende Gewalt und Wahlprüfung

In einem Urteil vom 8. Februar 2001 zur Wahlprüfung in Hessen [160] äußerte sich das Bundesverfassungsgericht zum Begriff der rechtsprechenden Gewalt. Nach dem Richtervorbehalt in Art. 92 GG ist die rechtsprechende Gewalt den Richtern anvertraut. Dies wird allgemein so verstanden, daß die Staatsfunktion Rechtsprechung nur durch Gerichte, und innerhalb der Gerichte nur durch Richter ausgeübt werden darf.[161] In Hessen bestand jedoch ein beim Landtag eingerichtetes "Wahlprüfungsgericht", das sich aus zwei Berufsrichtern und drei Landtagsabgeordneten zusammensetzte. Es entschied nach öffentlicher mündlicher Verhandlung durch Urteil; dieses wurde mit seiner Verkündung rechtskräftig. Als das Wahlprüfungsgericht im Zusammenhang mit einem Finanzskandal der größten Regierungspartei tätig wurde, beantragte die Landesregierung die Nichtigerklärung der einschlägigen Vorschriften im hessischen Wahlprüfungsgesetz und in der hessischen Verfassung. Das Bundesverfassungsgericht mußte sich jetzt damit auseinandersetzen, wie dieses Wahlprüfungsorgan einzuordnen war. Der Staatsgerichtshof des Landes Hessen qualifizierte es in einem parallelen landesrechtlichen Verfahren nicht als Gericht sondern als parlamentarisches Wahlprüfungsorgan.[162]

Der Begriff der rechtsprechenden Gewalt wird in Art. 92 GG nicht definiert sondern als vorkonstitutioneller Begriff vorausgesetzt.[163] Doch die vielen Facetten der rechtsprechenden Tätigkeit einerseits und der nicht-rechtsprechenden Tätigkeit von Gerichten andererseits haben dazu geführt, daß sich bis heute keine allgemeine Definition durchgesetzt hat. Ob die Wahrnehmung einer Aufgabe als Rechtsprechung anzusehen ist, hängt nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts wesentlich von verfassungsrechtlichen Vorgaben sowie von traditionellen oder durch den Gesetzgeber vorgenommenen Qualifizierungen ab.[164] Aus der Bezeichnung eines Gremiums oder seiner Besetzung mit unabhängigen Richtern läßt sich noch nicht auf die Ausübung rechtsprechender Gewalt schließen.[165] Maßgeblich ist vielmehr eine kombinierte materielle und funktionelle Betrachtungsweise. Um Rechtsprechung im materiellen Sinne handelt es sich, wenn eine hoheitliche Befugnis bereits durch die Verfassung den Richtern zugewiesen ist oder die Sache in einen traditionellen Kernbereich der Rechtsprechung fällt.[166] Um Rechtsprechung im funktionellen Sinne handelt es sich, wenn der Gesetzgeber ein gerichtsförmiges Verfahren hoheitlicher Streitbeilegung vorsieht und den dort zu treffenden Entscheidungen eine Rechtswirkung verleiht, die nur unabhängige Gerichte herbeiführen können. Zu den wesentlichen Begriffsmerkmalen in diesem Sinne gehört das Element der Entscheidung, der letztverbindlichen, der Rechtskraft fähigen Feststellung und des Ausspruchs, was im konkreten Fall rechtens ist.[167] 

Die Wahlprüfung in Hessen war nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts nur teilweise als rechtsprechende Tätigkeit ausgeformt. Aus der Bezeichnung als "Gericht" und der übertragenen Aufgabe wollte es noch nicht auf rechtsprechende Gewalt schließen, auch nicht aus der überwiegend gerichtsförmigen Verfahrensgestaltung und der Bezeichnung der Entscheidung als "Urteil". Doch in jener Vorschrift, die bestimmte, daß das "Urteil" mit seiner Verkündung rechtskräftig wurde, sah es eine Regelung der Ausübung rechtsprechender Gewalt. Die Rechtskraft sei im juristischen Sprachgebrauch ein Institut, das Entscheidungen der rechtsprechenden Gewalt vorbehalten sei. Es mache erkennbar, daß jede weitere gerichtliche Kontrolle (mit Ausnahme außerordentlicher Rechtsbehelfe wie der Verfassungsbeschwerde) unstatthaft sei. Die Verbindung der Begriffe "Urteil" und "rechtskräftig" im Wahlprüfungsgesetz erlaube es nicht, den Begriff der Rechtskraft untechnisch im Sinne verwaltungsrechtlicher Bestandskraft zu deuten. Das Gericht führte weiter aus, die Anordnung einer gerichtlich nicht weiter überprüfbaren Rechtswirksamkeit einer Entscheidung, welche streitige Rechtsverhältnisse regele, sei nur als Teil der rechtsprechenden Gewalt im Sinne von Art. 92 GG zulässig.[168]

Auch wenn die Begründung im Kern überzeugt ("Urteil" + "Rechtskraft" = rechtsprechende Gewalt), irritiert doch eine Schwachstelle im Argumentationsgang: Das Bundesverfassungsgericht lieferte keine Begründung für seine These, daß die Wahlprüfung nur teilweise als rechtsprechende Tätigkeit ausgeformt sei. Es erscheint auch zweifelhaft, ob so etwas überhaupt möglich ist: Eine unteilbare Entscheidung dürfte immer als Ganzes der einen oder der anderen Gewalt zuzuordnen sein. Die Argumentation des Gerichts bezog sich vielmehr darauf, daß die Elemente des hessischen Wahlprüfungsverfahrens nur teilweise eine Qualifizierung als rechtsprechende Gewalt nahelegten. Dagegen sprach nämlich, daß das Wahlprüfungsgericht auch Abgeordnete des Landtags umfaßte, die von ihrer eigenen Entscheidung unmittelbar selbst betroffen sein konnten und daher der Natur der Sache nach selbst Partei waren.[169] Die Streitentscheidung durch unbeteiligte Dritte ist aber ebenfalls ein unverzichtbares Merkmal der rechtsprechenden Gewalt.[170] 

In dieser Situation lag es nahe, die Regelungen über die Zusammensetzung des Wahlprüfungsgerichts für nichtig zu erklären, denn die beteiligten Landtagsabgeordneten waren mangels richterlicher Neutralität[171] keine Richter im Sinne des Art. 92 GG. Wenn das Gremium Urteile mit Rechtskraft fällte und deswegen als Organ der rechtsprechenden Gewalt anzusehen war, mußte seine innere Verfassung daran angepaßt werden. Dagegen sträubte sich das Bundesverfassungsgericht jedoch, denn es wollte nicht in die staatsorganisatorische Autonomie des Landes Hessen eingreifen. Mit der Begründung, daß sonst die Zusammensetzung des Wahlprüfungsgerichts beanstandet werden müsse, weil sie nicht den Anforderungen des Art. 92 GG entspreche, erklärte es stattdessen die Vorschrift über die Rechtskraft seiner Urteile für nichtig.[172] Damit knüpfte es nicht an die Rechtsfolge sondern die Voraussetzungen des Art. 92 GG an: Es sorgte nicht dafür, daß auch diese Tätigkeit der rechtsprechenden Gewalt nur von Richtern ausgeübt wird, sondern es nahm ihr den Charakter der rechtsprechenden Gewalt. Es veränderte also den Prüfungsgegenstand. Die hessische Wahlprüfung blieb bestehen, aber als ein Aliud.

Was die Kriterien für die Wahlprüfung selbst betrifft, erachtete es das Bundesverfassungsgericht für unbedenklich, daß nach dem hessischen Wahlprüfungsrecht auch Handlungen, welche gegen die guten Sitten verstoßen, die Wahl ungültig machen, wenn sie das Wahlergebnis beeinflussen. Das Gericht forderte allerdings eine verfassungskonforme enge Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffes der "gegen die guten Sitten verstoßenden Handlungen". Voraussetzung ist danach, daß in erheblicher Weise gegen die Grundsätze der Freiheit oder der Gleichheit der Wahl verstoßen wurde.[173] Das ist nur dann der Fall, wenn staatliche Stellen im Vorfeld der Wahl in erheblichem Maße parteiergreifend auf die Bildung des Wählerwillens eingewirkt haben, wenn private Dritte (auch Parteien oder einzelne Kandidaten) mit Mitteln des Zwangs oder Drucks die Wahlentscheidung beeinflußt haben oder wenn in ähnlich schwerwiegender Art und Weise auf die Willensbildung der Wähler eingewirkt worden ist, ohne daß eine hinreichende Möglichkeit der Abwehr (z.B. mit Hilfe der Gerichte oder der Polizei) oder des Ausgleichs bestand.[174]

IV. Finanzverfassung

[I. Vorbemerkung (2001/02-1)] [II. Grundrechte und grundrechtsgleiche Rechte (2001/02-1)] [III. Staatsorganisation und Staatsfunktionen]

Nach einem Urteil vom 28. März 2002[175] muß der Bund die Erlöse aus der Versteigerung der Lizenzen für das Mobilfunksystem UMTS nicht mit den Ländern teilen. Einige Länder hatten mit verschiedenen Klageanträgen eine Aufteilung erzwingen wollen, nachdem die Erlöse mit einer Summe von fast 100 Milliarden Deutsche Mark überraschend hoch ausgefallen waren. Für eine Beteiligung der Länder gab es indessen keine verfassungsrechtliche Grundlage. Die Finanzverfassung regelt in Art. 106 und 107 GG nur die Verteilung der Einnahmen aus Steuern und Finanzmonopolen. Werden Einnahmen im unmittelbaren Zusammenhang mit der Wahrnehmung einer bestimmten öffentlichen Aufgabe erzielt, bleiben sie mangels anderweitiger Regelung bei demjenigen, der die Verwaltungszuständigkeit für die Sachaufgabe hat.[176] Dies ist im Bereich der Telekommunikation allein der Bund (vgl. Art. 87f GG).

Die Finanzverfassung bildet eine geschlossene Rahmen- und Verfahrensordnung, die von den Prinzipien der Formenklarheit und Formenbindung beherrscht wird. Deswegen konnte in keiner Weise auf die Regelungen zur Verteilung der Einkommen-, Körperschaft- und Umsatzsteuer in Art. 106 Abs. 3 GG zurückgegriffen werden und kamen auch keine Analogieschlüsse in Betracht. Das Gericht wandte sich gegen den Wunsch der Länder, die Lizenzerlöse wie Steuern zu verteilen: Nichtsteuerliche Einnahmen können sich auch bei außergewöhnlich hohen Erträgen, wie sie herkömmlicherweise nur bei Steuern anfallen, nicht in steuergleiche Einnahmen verwandeln. Schließlich konnten den Ländern auch Verhandlungen über eine Neuverteilung der Umsatzsteuer nach Art. 106 Abs. 4 GG nicht weiterhelfen, denn dort beschlossene Änderungen würden sich auf die Zukunft beziehen, die Erlöse aus der Versteigerung der UMTS-Lizenzen waren aber in der Vergangenheit angefallen.[177] Den Ländern blieb nichts anderes übrig, als sich damit abzufinden, daß dieser unverhoffte Geldsegen an ihnen vorüberging.

 

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[116]  Daneben gibt es Kompetenzen des Bundes zur Rahmengesetzgebung (vgl. Art. 75 und 98 Abs. 3 S. 2 GG) und zur Grundsatzgesetzgebung (vgl. insbesondere Art. 109 Abs. 3 GG) sowie ungeschriebene Gesetzgebungskompetenzen. Soweit das Grundgesetz die Gesetzgebungskompetenzen nicht dem Bund zuweist, liegen sie bei den Ländern (vgl. Art. 70 Abs. 1 GG). Siehe dazu den Überblick bei Schmitz, Schema 2 zur Vorlesung Parlamentarisches Regierungssystem, Universität Greifswald, Wintersemester 2002/03.

[117]  Siehe dazu Oeter, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Band 2, 4. Auflage 2000, Art. 72 Rdnr. 28 ff. und Stettner, in: H. Dreier (Herausgeber.), Grundgesetz, Band 2, 1998, Art. 72 Rdnr. 12 ff.

[118]  BVerfGE 2, 213 (224 f.); vgl. auch BVerfGE 1, 264 (272 f.); 4, 115 (127 f.); 13, 230 (233 f.); 67, 299 (327); 78, 249 (270).

[119]  BVerfGE 106, 62 = NJW 2003, 41 = EuGRZ 2002, 631; siehe dazu auch die Anmerkungen und Besprechungen von Jochum, NJW 2003, 28; Sachs, Jus 2003, 394 und Winkler, JA 2003, 284. Im Unterschied zu den meisten anderen wichtigen Entscheidungen aus dem Berichtszeitraum 2001/02 gab es hier keine abweichenden Meinungen. Die Entscheidung erging einstimmig (BVerfGE 106, 62, 166).

[120]  Vgl. BVerfGE 106, 62 (104 - 135).

[121]  Vgl. BVerfGE 106, 62 (135 - 153).

[122]  Vgl. BVerfGE 106, 62 (153 - 165).

[123]  Vgl. BVerfGE 106, 62 (Leitsatz 2.a und S. 135 f., 142, 148).

[124]  BVerfGE 106, 62 (135 f.).

[125]  Dafür spricht auch die durchaus wohlwollende Erwähnung der Kritik in der Lehre an der alten Rechtsprechung (vgl. BVerfGE 106, 62, 136).

[126]  BVerfGE 106, 62 (136 f.) mit eingehender Darstellung der Reformbestrebungen bis zur Neufassung des Art. 72 Abs. 2 GG mit der Verfassungsreform von 1994 (S. 137 ff.). Das Gericht ging auch darauf ein, daß in der Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat, welche die Verfassungsreform vorbereitet hatte, die Sorge bestanden hatte, das Bundesverfassungsgericht könne "was immer wir hier täten ... per Federstrich wieder aufheben" (vgl. S. 139).

[127]  BVerfGE 106, 62 (142); das Bundesverfassungsgericht wandte sich namentlich gegen Lehrmeinungen in der Literatur, die davon ausgingen, daß nach wie vor ein Beurteilungsspielraum des Gesetzgebers bestehe.

[128]  Vgl. BVerfGE 106, 62 (142).

[129]  BVerfGE 106, 62 (Leitsatz 2.b und S. 143).

[130]  Vgl. BVerfGE 106, 62 (Leitsatz 2.b.aa und S. 143 f.).

[131]  Siehe das Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit von 1997.

[132]  Vgl. BVerfGE 106, 62 (Leitsatz 2.b.bb und S. 145).

[133]  Vgl. BVerfGE 106, 62 (Leitsatz 2.b.cc und S. 146 ff.).

[134]  BVerfGE 106, 62 (149 f.).

[135]  BVerfGE 106, 62 (150 ff.).

[137]  Vgl. BVerfGE 105, 313 (331 ff.).

[138]  Vgl. BVerfGE 8, 274 (294); 37, 363 (381); 55, 274 (319); kritisch dazu Lücke, in: Sachs (Herausgeber), Grundgesetz, 3. Auflage 2003, Art. 77 Rdnr. 15; Maurer, Staatsrecht I, 3. Auflage 2003, § 17 Rdnr. 74 ff.

[139]  Die einzelnen Länder haben im Bundesrat, je nach Einwohnerzahl, drei, vier, fünf oder sechs Stimmen (Art. 51 Abs. 2 GG).

[140]  Siehe BVerfGE 105, 313 (317) sowie die Bundestags-Drucksachen 14/4875 und 14/4878.

[142]  Siehe oben, Fußnote 138.

[143]  BVerfGE 105, 313 (340 ff.).

[144]  BVerfGE 106, 310 = NJW 2003, 339 = EuGRZ 2003, 67; siehe dazu auch die abweichende Meinung der Richterinnen Osterloh und Lübbe-Wolff, BVerfGE 106, 337 sowie die Besprechungen und Anmerkungen von Kramer, JuS 2003, 645; Renner, NJW 2003, 332 und Risse, DVBl. 2003, 390.

[146]  Siehe den Stenographischen Bericht im Plenarprotokoll 774 des Bundesrates vom 22.03.2002, S. 171 ff., abrufbar unter www.bundesrat.de, teilweise abgedruckt in BVerfGE 106, 310 (318 f.).

[147]  Plenarprotokoll 774, S. 171; Hervorhebungen durch Verfasser (T.S.).

[148]  Siehe Stern, Staatsrecht, Band II, 1980, § 27 III 2; Blumenwitz, in: Dolzer/Vogel (Herausgeber), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 51 [Stand: 1987], Rdnr. 29.

[149]  Siehe die ausführlichen Nachweise bei Schenke, NJW 2002, 1318 (1320).

[150]  Vgl. BVerfGE 106, 310 (330 f.).

[151]  BVerfGE 106, 310 (331 f.).

[152]  BVerfGE 106, 310 (332 f.). Das Bundesverfassungsgericht berücksichtigte in diesem Zusammenhang auch Äußerungen des Bundesratsmitgliedes Schönbohm in der vorausgegangenen Plenardebatte sowie die Tatsache, daß die brandenburgische Landesregierung über die Abgabe der Stimmen des Landes in dieser Angelegenheit keinen Beschluß gefaßt hatte.

[153]  BVerfGE 106, 310 (333 f.).

[154]  Vgl. BVerfGE 106, 310 (334).

[155]  Vgl. BVerfGE 106, 310 (334 f.).

[156]  Osterloh/Lübbe-Wolff, BVerfGE 106, 337 ff.

[157]  Deswegen ist der Hinweis verfehlt, daß nur von dem Ministerpräsidenten in einer solchen Situation erwartet werden könne, daß er kraft seiner politischen Autorität in der Lage sei, dem Interesse des Landes an wirksamer Stimmabgabe zur Geltung zu verhelfen (vgl. Osterloh/Lübbe-Wolff, BVerfGE 106, 337, 349). Daran anknüpfen ließe sich lediglich die Aufforderung an den Ministerpräsidenten, bei einer erneuten Abstimmung aller Bundesratsmitglieder des Landes für Einheitlichkeit zu sorgen.

[158]  Vgl. die Kritik bei Osterloh/Lübbe-Wolff, BVerfGE 106, 337 (347).

[159]  Osterloh/Lübbe-Wolff, BVerfGE 106, 337 (350).

[160]  BVerfGE 103, 111 = NJW 2001, 1048 = JZ 2001, 870; siehe dazu auch die Anmerkung von Hermes, JZ 2001, 873 und die Besprechung von Schmidt, NJW 2001, 1035.

[161]  Bettermann, in: Isensee/Kirchhof (Herausgeber), Handbuch des Staatsrechts, Band III, 1988, § 73 Rdnr. 4 mit weiteren Nachweisen.

[163]  Schulze-Fielitz, in: H. Dreier (Herausgeber), Grundgesetz, Band 3, 2000, Art. 92 Rdnr. 24.

[164]  Vgl. bereits BVerfGE 22, 49 (76 ff.); 64, 175 (179); 76, 100 (106).

[165]  Vgl. jetzt BVerfGE 103, 111 (137).

[166]  Vgl. bereits BVerfGE 22, 49 (76 f.).

[167]  Vgl. bereits BVerfGE 7, 183 (188 f.); 31, 43 (46); 60, 253 (269 f.).

[168]  BVerfGE 103, 111 (138 f.).

[169]  Vgl. BVerfGE 103, 111 (140).

[170]  Vgl. Schulze-Fielitz, in: H. Dreier (Herausgeber), Grundgesetz, Band 3, 2000, Art. 92 Rdnr. 25 mit umfangreichen Nachweisen.

[171]  Vgl. dazu Pietoth, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 6. Auflage 2002, Art. 92 Rdnr. 7 mit weiteren Nachweisen.

[172]  Vgl. BVerfGE 103, 111 (141).

[173]  Vgl. BVerfGE 103, 111 (125).

[174]  BVerfGE 103, 111 (132 f.).

[175]  BVerfGE 105, 185 = NJW 2002, 2020; siehe dazu auch Hufeld, JZ 2002, 871 (877 f.).

[176]  Vgl. BVerfGE 105, 185 (193). Die genaue rechtliche Einordnung der nichtsteuerlichen Einnahme ist in diesem Zusammenhang unerheblich und wurde deswegen vom Bundesverfassungsgericht nicht geklärt.

[177]  Vgl. BVerfGE 105, 185 (193 ff.).

 

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