Chronik der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts - 1994 (1)

01.10.05

(= ERPL/REDP 7 [1995], S. 1125 ff.)

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I. Vorbemerkung

[II. Grundrechte] [III. Staatsorganisation und Staatsfunktionen (1994-2)]

Der "Boom" der Verfassungsrechtsprechung, von dem Günter Püttner in seiner letzten Chronik zur Entwicklung des deutschen Verfassungsrechts (ERPL/REDP Vol. 7 Nr. 1) gesprochen hat, setzte sich auch 1994 fort. Die Gesamtstatistik des Bundesverfassungsgerichts nennt für das Geschäftsjahr 1994  5.324 Neueingänge und 5.326 Erledigungen (darunter 4.871 durch Entscheidung). Der weitaus größte Teil der Entscheidungen (insgesamt 4.835) erging zu Verfassungsbeschwerden (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a Grundgesetz), was deutlich erkennen läßt, daß der Bürger sich dieses Mittels des Grundrechtsschutzes durchaus bewußt ist, was aber auch erklärt, warum im vorliegenden Rechtsprechungsbericht die Grundrechte den Schwerpunkt bilden. Zahlenmäßig sind (mit 28 Entscheidungen) neben den Verfassungsbeschwerden nur noch die auf Richtervorlagen zurückgehenden konkreten Normenkontrollverfahren (Art. 100 Abs. 1 GG) von Bedeutung.[1]

Allerdings standen die Entscheidungen aus Karlsruhe 1994 nicht so sehr im Mittelpunkt der Diskussion in Medien, Politik und Wissenschaft wie im Vorjahr. Ein wesentlicher Grund dafür dürfte in ihrer geringeren politischen Brisanz zu sehen sein. Zwar fehlte es nicht an Fragestellungen, zu denen neben dem juristischen auch ein politischer Streit entbrannt war - als Beispiele seien hier nur der umstrittene Einsatz der Bundeswehr außerhalb des NATO-Gebietes und die ebenfalls umstrittenen vom Stromverbraucher finanzierten Subventionen für die Kohlewirtschaft (sog. "Kohlepfennig") genannt. Anders als im Vorjahr mit den Urteilen zum Schwangerschaftsabbruch[2] und zum Vertrag von Maastricht[3] waren jedoch nicht solche Fragen angesprochen, die zuvor - in Deutschland wie in anderen europäischen Staaten - heftige Auseinandersetzungen in der Öffentlichkeit hervorgerufen und die Bevölkerung weitgehend polarisiert hatten.

Ein weiterer Grund liegt darin, daß 1994 vor allem die Verfassungsreform die Aufmerksamkeit auf sich zog. Mit dem Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 27. Oktober 1994[4] fand sie nach jahrelangen Vorarbeiten und intensiver Diskussion endlich ihren Abschluß. Ein Jahr zuvor hatte die Gemeinsame Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat nach knapp zweijähriger Tätigkeit ihren Bericht vorgelegt.[5] Er blieb in seinen Empfehlungen eher zurückhaltend und weit entfernt von der Forderung nach einer tiefgreifenden Revision des Grundgesetzes; zum dringlichen Problem der Reform der bundesstaatlichen Finanzverfassung sprach die Gemeinsame Verfassungskommission keine Empfehlungen aus. Viele der Vorschläge fanden schließlich die erforderliche Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat und wurden durch das Gesetz vom 27.10.1994 umgesetzt.[6] Wichtige Änderungen erfuhren die Regelungen zu den Gesetzgebungskompetenzen von Bund und Ländern in Art. 72, 74, 75 GG. In Art. 3 Abs. 2 GG (Gleichberechtigung von Männern und Frauen) wurde ein Satz 2 aufgenommen, demzufolge der Staat die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung fördert und auf die Beseitigung bestehender Nachteile hinwirkt - was unter Umständen eine unvermeidliche Benachteiligung von Männern mit sich bringt. Ein neu eingefügter Satz 2 in Art. 3 Abs. 3 GG[7] stellt ausdrücklich klar, daß niemand wegen einer Behinderung benachteiligt werden darf. Mit Art. 20a GG wurde ein Staatsziel Umweltschutz eingeführt. Die Garantie der kommunalen Selbstverwaltung in Art. 28 Abs. 2 GG wurde durch die Klarstellung gestärkt, daß sie auch die Grundlagen der finanziellen Eigenverantwortung umfaßt. Weitere Grundgesetzänderungen betrafen unter anderem die Neugliederung des Bundes (Art. 29, 188a GG), das Gesetzgebungsverfahren (Art. 76, 77 GG) und den Erlaß von Rechtsverordnungen (Art. 80 GG).

Die Verfassungsentwicklung in der Bundesrepublik wurde 1994 also stärker durch den verfassungsändernden Gesetzgeber als durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geprägt. Die nachfolgend vorgestellten Entscheidungen fügen sich zudem in der Regel in bereits vorgezogene Linien ein und verfeinern und ergänzen die vorhergehende Rechtsprechung. Es gab aber 1994 durchaus auch verfassungsgerichtliche Pionierleistungen - man betrachte nur das Urteil zum Bundeswehreinsatz - und Entscheidungen, die vielfältige Reaktionen von Bürgern, Journalisten, Staatsbeamten und Politikern hervorriefen, wie die Beschlüsse zum Cannabis-Konsum und zur Bestrafung des Ausspruchs "Soldaten sind Mörder".

II. Grundrechte

[I. Vorbemerkung] [III. Staatsorganisation und Staatsfunktionen (1994-2)]

1) Allgemeines Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG)

[1996] [1997] [1999]

Mehrere Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts betrafen das allgemeine Persönlichkeitsrecht, einen Teilbereich des Rechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG), dessen Wesen und Inhalt sich erst aus dem Zusammenhang mit der Garantie der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) erschließt. Dieses Recht, das von der allgemeinen Handlungsfreiheit zu unterscheiden ist (dem anderen Teilbereich des Rechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit), soll im Sinne der Menschenwürde die engere persönliche Lebenssphäre und die Erhaltung ihrer Grundbedingungen gewährleisten.[8]

a) Als einen unverhältnismäßigen (und daher verfassungswidrigen) Eingriff in das vom allgemeinen Persönlichkeitsrecht umfaßte Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung[9] beurteilte das Gericht eine Bestimmung im Bürgerlichen Gesetzbuch (= BGB), die das Recht des volljährigen nichtehelichen Kindes, seine Ehelichkeit selbst anzufechten, nachdem sein gesetzlicher Vertreter dies unterlassen hatte, im Interesse der Rechtssicherheit ausdrücklich auf einen Zeitraum von zwei Jahren nach Eintritt der Volljährigkeit begrenzte.[10] Im Unterschied zu vergleichbaren Regelungen zur Ehelichkeitsanfechtung durch den Vater oder durch den gesetzlichen Vertreter des minderjährigen Kindes nahm diese Bestimmung keine Rücksicht darauf, ob der Anfechtungsberechtigte überhaupt von den zur Anfechtung berechtigenden Umständen erfuhr. Im Ergebnis führte sie dazu, daß mit der Vollendung des zwanzigsten Lebensjahres jegliche Klärung der Abstammung ausgeschlossen war. Damit war die Grenze dessen überschritten, was das Interesse an Rechtssicherheit an Einschränkungen des Persönlichkeitsrechts rechtfertigen kann. Das Gericht wies aber auch auf Regelungsalternativen hin, die dem Kind eine Klärung seiner biologischen Abstammung ohne Auswirkungen auf seinen rechtlichen Status ermöglichen könnten.

b) Ausdrücklich offen gelassen hat das Gericht in einer Entscheidung zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht von Unternehmen[11] die Frage, ob sich juristische Personen überhaupt auf das - verfassungsrechtliche - allgemeine Persönlichkeitsrecht berufen können. Das Gericht hatte dieses Recht bisher nur auf natürliche Personen angewandt. Für die Erstreckung auf juristische Personen wäre entscheidend, ob das allgemeine Persönlichkeitsrecht seinem Wesen nach auf juristische Personen anwendbar ist (vgl. Art. 19 Abs. 3 GG) oder ob sein enger Bezug zur Menschenwürde dem entgegensteht. Auf der Ebene des einfachen Rechts wird der soziale Geltungsanspruch des Wirtschaftsunternehmens durch das zivilrechtliche allgemeine Persönlichkeitsrecht geschützt, das nicht mit dem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit (= i.V.m.) Art. 1 Abs. 1 GG identisch ist. Ob auch Unternehmen den Schutz des letzteren genießen, brauchte hier nicht geklärt zu werden, da mit dem zivilrechtlichen allgemeinen Persönlichkeitsrecht jedenfalls das Recht des Unternehmens auf freie wirtschaftliche Entfaltung betroffen ist, das als Ausfluß der allgemeinen Handlungsfreiheit ebenfalls durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützt ist.

2) Allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG)

[2002]

Eine Reihe von Entscheidungen erging zu der in Art. 2 Abs. 1 GG gewährleisteten allgemeinen Handlungsfreiheit. Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit hat auch die Funktion eines Auffanggrundrechtes, das immer dann zur Anwendung kommt, wenn eine Betätigung eingeschränkt wird, die nicht in einem der speziellen Freiheitsrechte besonders geschützt ist. Als ein allgemeines Freiheitsrecht schützt Art. 2 Abs. 1 GG nicht nur die geistig-sittliche Persönlichkeitsentfaltung, sondern die menschliche Handlungsfreiheit im weitesten Sinne, das heißt jede menschliche Tätigkeit überhaupt.[12]

a) Ohne Erfolg blieb eine Verfassungsbeschwerde, mit der die Zustellung einer vor einem amerikanischen Gericht erhobenen und auf "punitive damages" gerichteten Schadensersatzklage an die in Deutschland ansässige Beklagte verhindert werden sollte, um so den Prozeß in den USA überhaupt zu vereiteln. "Punitive or exemplary damages" sind Zahlungspflichten, die das Gericht dem Schädiger im Falle schweren Fehlverhaltens zusätzlich zum Schadensausgleich auferlegen kann. Ein solcher Strafschadensersatz kann eine beträchtliche Höhe - bis hin zu einem Vielfachen der eigentlichen Schadenshöhe - erreichen. Das deutsche Recht kennt dieses Rechtsinstitut nicht.

Das Bundesverfassungsgericht hatte keine Bedenken gegen die Zustellung der Klageschrift. Die dogmatisch interessante Frage, ob in der bloßen amtlichen Weiterleitung eines Schriftstückes ein Grundrechtseingriff liegen kann oder ob sie gegebenenfalls an den Maßstäben zu messen ist, die sich aus den Schutzpflichten des Staates ergeben, blieb unbeantwortet: Selbst wenn man in der Zustellung einen Eingriff sehe, sei dieser jedenfalls mit Art. 2 Abs. 1 GG vereinbar. Die Zustellung von Klageschriften lasse sich auf das Haager Zustellungsübereinkommen von 1965 und damit auf eine verfassungsgemäße gesetzliche Grundlage stützen. Sie sei auch kein unverhältnismäßiger Eingriff, auch wenn das amerikanische Rechtsinstitut des Strafschadensersatzes dem deutschen zivilrechtlichen Sanktionensystem fremd sei. Unverzichtbare Grundsätze des freiheitlichen Rechtsstaates würden durch die Möglichkeit der Verhängung von Strafschadensersatz, der der Bestrafung, der Abschreckung und dem Ausgleich immaterieller Schäden diene, nicht verletzt.[13]

b) Erfolgreich war hingegen eine Verfassungsbeschwerde, mit der die Beschwerdeführerin geltend machte, in ihrer Privatautonomie verletzt zu sein.[14] Mit seinem Beschluß vom 5. August 1994[15] setzte das Bundesverfassungsgericht seine Rechtsprechung zur Inhaltskontrolle von Bürgschaften naher Familienangehöriger bei gestörter Vertragsparität fort, die es bereits im Vorjahr eingeleitet hatte.[16] Diese Rechtsprechung dürfte Geschäftspraktiken der Banken ein Ende bereiten, die viele Bürger in ausweglose Überschuldung getrieben haben: Geschäfts- oder Konsumentenkredite werden häufig nur dann vergeben, wenn nahe Familienangehörige des Kreditnehmers, etwa dessen Kinder, in einem Bürgschaftsvertrag die vollständige Haftung für die Kreditverbindlichkeiten übernehmen. In vielen Fällen bleiben die Einkommens- und Vermögensverhältnisse der Bürgen ungeprüft und übersteigen die Verbindlichkeiten das, was sie überhaupt jemals werden leisten können. Der Bundesgerichtshof hatte die Wirksamkeit dieser Verträge bejaht und einer Inhaltskontrolle eine Absage erteilt.[17]

Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistet die Privatautonomie als Selbstbestimmung des Einzelnen im Rechtsleben.[18] Der Staat hat diese Selbstbestimmung nicht nur zu achten und sich übermäßiger Reglementierung zu enthalten, sondern muß sie auch vor der faktischen Außerkraftsetzung durch übermächtige Vertragspartner bewahren - es handelt sich hier um ein Problem der sogenannten Drittwirkung der Grundrechte und der Schutzpflicht des Staates. Da sich alle Bürger gleichermaßen auf die grundrechtliche Gewährleistung ihrer Privatautonomie berufen können, darf nicht nur das Recht des Stärkeren gelten. Hat einer der Vertragsteile ein so starkes Übergewicht, daß er den Vertragsinhalt faktisch einseitig bestimmen kann, bewirkt dies für den anderen Vertragsteil Fremdbestimmung. Bei typisierbaren Fallgestaltungen, die eine strukturelle Unterlegenheit des einen Vertragsteils erkennen lassen, muß die Zivilrechtsordnung dann, wenn die Folgen des Vertrages für den unterlegenen Vertragsteil ungewöhnlich belastend sind, darauf reagieren und Korrekturen ermöglichen. Das folgt, so das Bundesverfassungsgericht,[19] aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs.  1, 28 Abs. 1 GG).

Die Zivilgerichte dürfen nach dieser Rechtsprechung nicht zulassen, daß Verträge als Mittel der Fremdbestimmung dienen. Damit haben sie - entgegen der Ansicht des Bundesgerichtshofes - eine Pflicht zur Inhaltskontrolle. Ist der Vertragsinhalt für eine Seite ungewöhnlich belastend und als Ausgleich der Interessen der Vertragspartner offensichtlich unangemessen, müssen sie klären, ob die vereinbarte Regelung eine Folge strukturell ungleicher Verhandlungsstärke ist. Gegebenenfalls müssen sie im Rahmen der zivilrechtlichen Generalklauseln wie etwa § 138 BGB (Nichtigkeit sittenwidriger Rechtsgeschäfte) und § 242 BGB (Treu und Glauben) korrigierend eingreifen.[20]

Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts kann also nur eine Inhaltskontrolle der Verträge anhand der zivilrechtlichen Generalklauseln die Privatautonomie hinreichend schützen. Wie die Zivilgerichte im einzelnen zu verfahren haben, soll eine Frage des einfachen Rechts bleiben, doch das bedeutet nur, daß das Bundesverfassungsgericht dem Zivilrichter die Auswahl zwischen § 138 BGB, § 242 BGB und anderen zivilrechtlichen Generalklauseln überläßt. Der Rahmen ist eindeutig vorgegeben: eine Inhaltskontrolle, das heißt eine Lösung auf materiellrechtlicher Ebene. Damit äußerte sich das Gericht nicht nur zu einer verfassungsrechtlichen, sondern auch zu einer zivilrechtlichen Streitfrage, nämlich dazu, ob den Härten, die eine lebenslange Haftung für Zahlungsverpflichtungen mit sich bringt, auf der Ebene des materiellen Privatrechts oder auf der Ebene des Vollstreckungs- oder Insolvenzrechts zu begegnen ist. Ein effektiver Schutz der Privatautonomie ist möglicherweise auch außerhalb des materiellen Privatrechts denkbar, etwa durch großzügige Gewährung von Vollstreckungsschutz oder durch die seit Jahren diskutierte Ermöglichung eine Privatkonkurses mit schuldbefreiender Wirkung. Welche Mittel hier die richtigen sind, muß letztlich der Entscheidung des Gesetzgebers bzw. der Zivilgerichte überlassen bleiben. Werden dort Alternativen entwickelt, so muß die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die nur auf einen ausreichenden Schutz faktischer Handlungsfreiheit, nicht aber auf eine bestimmte Gestaltung der Zivilrechtsordnung ausgerichtet sein darf, angepaßt werden. - Etwas anderes könnte sich allenfalls dann ergeben, wenn man in der rechtlichen Anerkennung von Bürgschaften, die für den mittellosen Bürgen faktisch den Verzicht auf alles zukünftige Einkommen bedeuten, eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts sieht.[21] Eine Lösung wäre dann nur auf materiellrechtlicher Ebene denkbar, weil bereits die Anerkennung der rechtlichen Verpflichtung und nicht erst ihre Durchsetzung das Persönlichkeitsrecht berühren würde. Das Bundesverfassungsgericht ließ diese Frage jedoch weiterhin offen.

c) Für Aufsehen sorgte der Beschluß vom 9. März 1994 zur Strafbarkeit des unerlaubten Umgangs mit Cannabis-Produkten[22]. [Siehe dazu auch Fall 1.] Das Bundesverfassungsgericht erklärte die einschlägigen Strafvorschriften des Betäubungsmittelgesetzes (= BtMG) für verfassungsgemäß, und zwar auch soweit sie solche Verhaltensweisen mit Strafe bedrohen, die ausschließlich den gelegentlichen Eigenverbrauch geringer Mengen von Cannabis-Produkten vorbereiten und nicht zu einer Fremdgefährdung führen. Gleichzeitig verlangte es jedoch von den Strafverfolgungsorganen, bei geringem individuellen Unrechts- und Schuldgehalt grundsätzlich entsprechend den gesetzlichen Möglichkeiten von Strafe und Strafverfolgung abzusehen. Damit bleibt der Besitz geringer Mengen von Marihuana, Haschisch und anderen Cannabis-Erzeugnissen strafbar, wird aber in der Regel nicht bestraft. Dieses verwirrende Ergebnis führte in Presse, Rundfunk und Fernsehen zu den abenteuerlichsten Interpretationen.

Das Bundesverfassungsgericht arbeitete zunächst heraus, welche Grundrechte durch die Strafvorschriften des BtMG berührt werden, nämlich die allgemeine Handlungsfreiheit, soweit diese Vorschriften den Umgang mit Drogen verbieten und unter Strafe stellen, und die Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG), soweit sie mit Freiheitsstrafe drohen. Sodann stellte das Gericht klar, daß der Umgang mit Drogen angesichts seiner vielfältigen sozialen Auswirkungen keineswegs dem absolut geschützten, jeglicher Einwirkung der öffentlichen Gewalt entzogenen Kernbereich privater Lebensgestaltung zuzurechnen ist. Ein uneinschränkbares "Recht auf Rausch" gibt es nicht.[23]

Den Schwerpunkt der Entscheidung bildet die Prüfung der Verhältnismäßigkeit, also der Frage, ob die Strafvorschriften, soweit sie sich auch auf Cannabis-Produkte beziehen, geeignet, erforderlich und angemessen sind, um die von den Drogen ausgehenden Gefahren wirksam zu bekämpfen.[24] Schon die Geeignetheitsprüfung veranlaßte das Gericht zu langen Ausführungen, die sich teilweise wie ein Fachbuch zur Cannabis-Pflanze und zur Drogenproblematik lesen. Am Ende stellte das Gericht fest, Cannabis sei aus heutiger Sicht zwar weniger gefährlich, als bei Erlaß des BtMG angenommen, doch beständen auch nach heutigem Erkenntnisstand beträchtliche Gefahren und Risiken, die es rechtfertigten, Strafvorschriften als geeignetes Mittel anzusehen.[25] Die Einschätzung des Gesetzgebers, die Androhung von Strafe sei hier auch erforderlich, blieb ebenso unbeanstandet. Das Gericht verwies darauf, daß in der kriminalpolitischen Diskussion über Bestrafung oder kontrollierte Freigabe der weichen Drogen wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse, die zwingend für die alleinige Richtigkeit des einen oder anderen Weges sprächen, nicht vorliegen.[26]

Das Gericht bejahte nach differenzierter Prüfung auch die Angemessenheit der Strafvorschriften. Das Umgangsverbot als solches sei ohne weiteres durch den Zweck der Drogenbekämpfung gerechtfertigt, der Einsatz von Kriminalstrafe zu seiner Durchsetzung grundsätzlich nicht zu beanstanden.[27] Die Strafandrohungen seien aber auch im einzelnen angemessen. Das öffentliche Interesse an der Verhinderung einer unkontrollierten Verbreitung der Droge rechtfertige die Androhung von Strafe nicht nur für den Handel, die Einfuhr und die Durchfuhr, sondern ebenso für die unentgeltliche Weitergabe und letztlich auch für den bloßen Erwerb und Besitz von Cannabis-Produkten. Auch letztere nämlich eröffneten die Möglichkeit unkontrollierter Weitergabe an Dritte und gefährdeten so fremde Rechtsgüter, und zwar selbst dann, wenn sie nach der Vorstellung des Täters nur den Eigenverbrauch vorbereiten sollten.[28] Das Gericht räumte zwar ein, daß beim Erwerb kleiner Mengen zwecks gelegentlichen Eigenverbrauchs Gefährlichkeit und individuelle Schuld sehr gering sein können, verwies jedoch auf die besonderen gesetzlichen Vorschriften, die es den Strafverfolgungsorganen ermöglichen, in solchen Fällen von Strafe oder Strafverfolgung abzusehen (vgl. §§ 29 Abs. 5, 31a BtMG; 153, 153a Strafprozeßordnung). Die Entscheidung des Gesetzgebers, einem geringen Unrechts- und Schuldgehalt vorwiegend durch eine Einschränkung des Verfolgungszwanges Rechnung zu tragen, sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, denn das Übermaßverbot gestatte sowohl eine materiellrechtliche (strafrechtliche) als auch eine prozessuale (strafprozeßrechtliche) Lösung.[29] Die Strafvorschriften selbst sind also verfassungsmäßig, doch ihre Anwendung würde in zahlreichen Fällen das Übermaßverbot und damit auch die Grundrechte des Bestraften verletzen.

Mit diesen Vorstellungen vom Strafrecht und vom Strafprozeßrecht stieß das Gericht auch in den eigenen Reihen auf Kritik. Der Richter Bertold Sommer betonte in seinem abweichenden Votum[30], daß die Sanktion der Strafe den Vorwurf zum Ausdruck bringt, der Täter habe elementare Werte des Gemeinschaftslebens verletzt, und daher einen engen Bezug zur Würde des Menschen (Art. 1 Abs. 1 GG) aufweist. Schon die Androhung der Strafe brandmarkt ein bestimmtes Verhalten offiziell als verwerflich, nicht erst ihre Verhängung. Es hätte daher näher ausgeführt werden müssen, worin das besondere Gefährdungspotential liegen soll, daß es rechtfertigen könnte, den Eingriff der Strafandrohung auch auf Verhaltensweisen zu erstrecken, mit denen ohne jegliche konkrete Fremdgefährdung allein der gelegentliche Eigengenuß von Cannabis-Produkten vorbereitet wird. Das Bundesverfassungsgericht begründet seine Annahme, es bestehe immer die Gefahr einer unkontrollierten Weitergabe an Dritte, nicht weiter. Sein Argument, gerade im Erwerb zum Zwecke des Eigenverbrauchs verwirkliche sich die Nachfrage nach der Droge,[31] kann wohl kaum ernsthaft zur Rechtfertigung von Strafe herangezogen werden; es müßte im übrigen auch für den - straflosen - Drogenkonsum selbst gelten. Erstaunlicherweise sind die Ausführungen gerade an dieser für die Entscheidung maßgeblichen Stelle knapp gehalten.

Einer "prozessualen Lösung" dürfte im übrigen, wie in dem abweichenden Votum des Richters Sommer näher ausgeführt,[32] der Grundsatz "nulla poena sine lege" (Art. 103 Abs. 2 GG) entgegenstehen. Dieser Grundsatz verbietet es dem Gesetzgeber, die Entscheidung über die Strafbarkeit bestimmter Verhaltensweisen anderen staatlichen Gewalten zu überlassen. Der Gesetzgeber darf zwar Vorschriften einführen, die den Verfolgungszwang auflockern und es den Strafverfolgungsorganen ermöglichen, im Einzelfall von Strafe oder Strafverfolgung abzusehen, doch muß sichergestellt sein, daß diese Praktiken nicht zu einer faktischen Neudefinition des Straftatbestandes führen. Wird den Strafverfolgungsorganen aber aus verfassungsrechtlichen Gründen eine Zurückhaltung abverlangt, die im Ergebnis auf die Korrektur eines zu weit gefaßten Tatbestandes mit den Mitteln des Prozeßrechts hinausläuft, liegt die Entscheidung über das, was effektiv strafbar ist, letztlich nicht mehr beim Gesetzgeber, sondern bei ihnen.

3) Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. HS GG)[33]

[1995] [1996] [2000] [2003]

a) Auf starke Resonanz in der Öffentlichkeit stieß auch der Beschluß vom 25. August 1994 zur strafrechtlichen Verfolgung des Tucholsky-Zitates "Soldaten sind Mörder"[34]. Der Beschwerdeführer einer erfolgreichen Verfassungsbeschwerde war wegen Volksverhetzung und Beleidigung (§§ 130 und 185 des Strafgesetzbuches = StGB) verurteilt worden, weil er an seinem Kraftfahrzeug einen Aufkleber mit der stilisierten Aufschrift "Soldaten sind Mörder" angebracht hatte. Auf dem selben Aufkleber stand unter der Aufschrift die faksimilierte Unterschrift "Kurt Tucholsky"; in unmittelbarer Nähe davon war auf einem weiteren Aufkleber die bekannte Kombination des Fotos eines Soldaten, der gerade von einer Kugel getroffen wird und seine Waffe fallen läßt, und der Aufschrift "Why?" zu sehen.

Das Strafurteil verletzte den Beschwerdeführer - so das Bundesverfassungsgericht - in seinem Grundrecht auf Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 1, 1. Halbsatz GG). Die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen waren längst entschieden, das Gericht mußte seine vorhandene ständige Rechtsprechung lediglich vertiefen. Meinungsfreiheit bedeutet nicht nur den Schutz aller Meinungen (und damit auch aller Werturteile) ohne Rücksicht darauf, ob sie "richtig" oder "falsch", rational oder emotional sind (also selbst scharfer und überzogener Kritik).[35] Das Grundrecht stellt auch Anforderungen an die korrekte Erfassung und Würdigung der geäußerten Meinung. Bevor geklärt werden kann, ob eine Äußerung den Schutz des Grundrechts genießt und ob sie die Tatbestandsmerkmale eines einschränkenden allgemeinen Gesetzes erfüllt, muß sie zunächst einmal richtig verstanden werden. Der Strafrichter darf ihr keinen Sinn entnehmen, den sie in Wirklichkeit nicht hat, und muß im Falle mehrerer Interpretationsmöglichkeiten erst die anderen möglichen Deutungen mit überzeugenden Gründen ausschließen, bevor er sich für die zur Verurteilung führende Deutung entscheidet.[36] Ausdrücke, die im öffentlichen Meinungskampf verwendet werden, darf er nicht ohne weiteres in einem rechtstechnischen Sinne verstehen, wenn auch eine alltagssprachliche Begriffsverwendung in Betracht kommt.

Die Strafrichter hatten diese verfassungsrechtlichen Anforderungen mißachtet. Sie hatten den Ausdruck "Mörder" auf der Aufschrift so interpretiert, als sei damit der Täter eines Mordes im Sinne des § 211 des Strafgesetzbuches gemeint. Sie hatten ignoriert, daß nach dem in der Alltagssprache üblichen unspezifischen Verständnis die Ausdrücke "Mord" und "Mörder" für jedes mißbilligte Töten eines Menschen stehen können. Außerdem hatten sie unberücksichtigt gelassen, daß der zweite Aufkleber auch so gedeutet werden konnte, daß er Soldaten nicht als Täter, sondern als Opfer kriegerischer Auseinandersetzungen würdigt, und daß dies auch den inkriminierten Aufkleber in anderem Licht erscheinen lassen mußte. Vor allem aber kritisierte das Bundesverfassungsgericht die Unterstellung, der Beschwerdeführer habe mit der Verwendung des Zitates des bereits 1935 verstorbenen Kurt Tucholsky die heutigen Angehörigen der Bundeswehr der Begehung konkreter Mordtaten beschuldigen wollen.[37]

b) Mit einem Beschluß vom 13. April 1994[38] ergänzte das Bundesverfassungsgericht seine bisherige Rechtsprechung zum Leugnen der Judenverfolgung (sogenannte Auschwitzlüge)[39]. [Siehe dazu auch Fall 3.] Wer den systematischen Massenmord an der jüdischen Bevölkerung im Dritten Reich abstreitet, kann sich schon deshalb nicht auf das Grundrecht der Meinungsfreiheit berufen, weil eine solche erwiesen unwahre Tatsachenbehauptung keine Meinungsäußerung darstellt und daher nicht in den Schutzbereich des Grundrechts fällt.[40] Wird die Auschwitzlüge aber in die Meinungsäußerung zu einem anderen Thema als meinungsbildendes Element eingeflochten (etwa zur Begründung der Auffassung, die deutsche Nachkriegsentwicklung sei geprägt von antideutscher Umerziehungsagitation), so scheidet diese einfache Lösung auf Schutzbereichsebene aus. Denn Äußerungen, die Tatsachenbehauptungen und Meinungen so miteinander verknüpfen, daß sie sich ohne Sinnverfälschung nicht mehr voneinander trennen lassen, müssen in ihrer Gesamtheit in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit einbezogen werden, um eine wesentliche Verkürzung des Grundrechtsschutzes zu vermeiden.[41] Damit kommt freilich auch die Schranke der allgemeinen Gesetze (Art. 5 Abs. 2 GG) zum Einsatz, die gewöhnlich zu einer Abwägung (im Rahmen der Gesetzesanwendung) führt. Bei dieser Abwägung kann es entscheidend auf den Wahrheitsgehalt der in die Meinungsäußerung eingeflochtenen Tatsachenbehauptungen ankommen. Die Meinungsfreiheit muß jedenfalls in der Regel dann zurücktreten, wenn nachgewiesen unwahre Behauptungen das Persönlichkeitsrecht Dritter verletzen, und dies ist bei der Auschwitzlüge, die alle in Deutschland lebenden Juden beleidigt und diskriminiert, der Fall.[42]

c) Andere Entscheidungen betreffen Meinungsäußerungen von Strafgefangenen oder im Briefverkehr mit Strafgefangenen. Disziplinarmaßnahmen, mit denen die Leitung der Strafvollzugsanstalt auf herabwürdigende Bemerkungen über Vollzugsbeamte reagiert, dürfen wegen ihres strafähnlichen Charakters nach dem Schuldgrundsatz, der sich aus Art. 2 Abs. 1 und Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) ergibt, die Schuld des Gefangenen nicht übersteigen. Außerdem sind sie am Grundrecht der Meinungsfreiheit zu messen, das auch Meinungsäußerungen von Strafgefangenen schützt und im Rahmen von Disziplinarmaßnahmen nur nach den Vorschriften des Strafvollzugsgesetzes (einem "allgemeinen Gesetz" im Sinne des Art. 5 Abs. 2 GG) und nur unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit eingeschränkt werden darf. Da der Meinungsfreiheit im gesellschaftlichen und politischen Leben des demokratischen Staates hohe Bedeutung zukommt, ist der freien Meinungsäußerung des Gefangenen auch im Strafvollzug ein möglichst weiter Spielraum zu belassen. Erst nach vollständiger Sachverhaltsaufklärung ist unter Abwägung aller Umstände des Einzelfalles zu prüfen, ob und gegebenenfalls welche Disziplinarmaßnahmen als schuldangemessene und verhältnismäßige Reaktion auf das dem Gefangenen vorgeworfene Fehlverhalten in Betracht kommen. Dabei ist auch zu berücksichtigen, daß unter den Bedingungen des Freiheitsentzuges Spannungen zwischen Gefangenen und Vollzugsbeamten fast unausweichlich sind.[43]

Herabwürdigende Bemerkungen über Vollzugsbeamte in Briefen von Strafgefangenen oder an Strafgefangene genießen den Schutz der Privatsphäre, eines durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht geschaffenen persönlichen Freiraumes. Dies gilt auch dann, wenn der Briefverkehr der Überwachung durch die Anstaltsleitung unterliegt und daher von vornherein damit zu rechnen ist, daß dieser die Bemerkungen nicht verborgen bleiben. Die Kenntnisnahme ändert nichts an der Zugehörigkeit zu dem geschützten privaten Bereich. Der Grundrechtsschutz wirkt sich gerade dahingehend aus, daß der vertrauliche Charakter der Mitteilung trotz der staatlichen Überwachung erhalten bleibt. Eine strafrechtliche Verurteilung wegen Beleidigung (§ 185 StGB), die auf der gegenteiligen Annahme beruht, verletzt den Verurteilten in seinem Grundrecht auf Meinungsfreiheit.[44]

4) Informationsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 1, 2. HS GG)

[1995] [1996] [2001]

Das in Art. 5 Abs. 1 Satz 1, 2. Halbsatz GG gewährleistete Recht, sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten (Informationsfreiheit), ergänzt als ein selbständiges Grundrecht  Meinungs-, Presse- und Rundfunkfreiheit aus Empfängerperspektive. Es ist eine wichtige Voraussetzung der freiheitlichen Demokratie, denn erst mit seiner Hilfe kann sich der Bürger die Grundlagen schaffen, die es ihm ermöglichen, seine persönlichen und politischen Aufgaben zu erfüllen und im demokratischen Sinne verantwortlich zu handeln.[45] Entsprechend dieser Funktion des Grundrechts ist der Begriff der "allgemein zugänglichen Quellen" weit auszulegen. Allgemein zugänglich sind alle Informationsquellen, die geeignet und bestimmt sind, der Allgemeinheit (also einem individuell nicht bestimmbaren Personenkreis) Informationen zu verschaffen,[46] und damit neben den inländischen auch alle ausländischen Fernseh- und Hörfunkprogramme, die man in der Bundesrepublik empfangen kann. Setzt der Empfang besondere technische Anlagen voraus, die eine an die Allgemeinheit gerichtete Information erst individuell erschließen, muß sich der Grundrechtsschutz auch auf die Beschaffung und Nutzung solcher Anlagen erstrecken. Ein Informationsgrundrecht, das den freien Einsatz der für einen großen Teil des heutigen Medienspektrums unentbehrlichen technischen Hilfsmittel nicht gewährleisten würde, wäre praktisch wertlos. Es kann also nicht überraschen, daß nach dem Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar 1994[47] auch die Installation von Parabolantennen zum Satellitenempfang ausländischer Fernsehprogramme in den Schutzbereich des Grundrechts fällt.

Die Bedeutung dieser Rechtsprechung zeigt sich indessen erst im Mietrecht, nämlich dann, wenn das Zivilgericht klären muß, ob der Vermieter nach §§ 535, 536, 242 BGB verpflichtet ist, dem Anbringen einer Parabolantenne in der gemieteten Wohnung zuzustimmen oder ob die Antennenerrichtung eine Sondernutzung darstellt, die den vertragsgemäßen Gebrauch der Wohnung überschreitet.[48] Zwar findet die Informationsfreiheit wie alle in Art. 5 Abs. 1 GG verbürgten Rechte nach Art. 5 Abs. 2 GG ihre Schranken in den allgemeinen Gesetzen, und zu diesen zählen auch die Bestimmungen im BGB, die die Rechte und Pflichten von Mietern und Vermietern festlegen, doch müssen bei deren Auslegung und Anwendung die betroffenen Grundrechte ihrerseits berücksichtigt werden. Dies gilt auch für die Konkretisierung von Generalklauseln wie § 242 BGB (Treu und Glauben). Das Bundesverfassungsgericht verlangte hier eine fallbezogene Abwägung zwischen den Eigentumsinteressen des Vermieters auf Erhalt eines unbeeinträchtigten äußeren Erscheinungsbildes des Mietshauses und den Informationsinteressen des Mieters.[49]

Diese Abwägung kann regelmäßig zugunsten der Eigentumsinteressen des Vermieters ausfallen, wenn die Mieter die Möglichkeit haben, ihre Informationsinteressen durch Nutzung eines vom Vermieter bereitgestellten Kabelanschlusses zu befriedigen. Die Zivilgerichte dürfen den Vermieterinteressen allerdings nicht von vornherein den Vorrang einräumen, ohne anzugeben, welche Eigenschaften des Mietobjektes dieses Ergebnis rechtfertigen. Der Verweis auf den Kabelanschluß wird schließlich in aller Regel ausscheiden, wenn es sich bei dem Mieter um einen dauerhaft in Deutschland lebenden Ausländer handelt, der über Satellit Programme des Heimatlandes empfangen will, die nicht in das Kabelnetz eingespeist werden. Seine Informationsinteressen, die darauf gerichtet sind, die kulturelle und sprachliche Verbindung zu seinem Heimatland aufrechtzuerhalten, werden durch das Programm des örtlichen Kabelnetzes nicht erfüllt. Als Ergebnis der Abwägung wird hier regelmäßig eine Entscheidung zugunsten des ausländischen Mieters fallen müssen.[50] Jedenfalls aber wäre es eine grundlegende Verkennung des Grundrechts der Informationsfreiheit, den ausländischen Mieter auf andere Medien seines Heimatlandes (etwa Printmedien oder Videobänder) oder gar auf eine Übersetzung deutschsprachiger Sendungen durch Familienangehörige zu verweisen.[51]

5) Rundfunkfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG)

[1998] [2001]

a) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts[52] handelt es sich bei der in Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG gewährleisteten Rundfunkfreiheit nicht um ein Grundrecht, das seinem Träger zum Zwecke der eigenen Persönlichkeitsentfaltung eingeräumt ist, sondern um eine dienende Freiheit, die die freie individuelle und öffentliche Meinungsbildung als "Medium und Faktor" in einem umfassenden Sinne fördern soll. Sie erschöpft sich daher nicht in der Abwehr staatlicher Einflußnahme auf den Rundfunk und überläßt letzteren damit den gesellschaftlichen Kräften, sondern verlangt nach einer positiven Ordnung, die sicherstellt, daß der Rundfunk weder dem Staat noch einzelnen gesellschaftlichen Gruppen ausgeliefert ist, sondern die Vielfalt der Themen und Meinungen aufnimmt und wiedergibt, die in der Gesellschaft eine Rolle spielen. Entscheidet sich der Gesetzgeber - wie in der Bundesrepublik in den 80er Jahren geschehen - für eine Rundfunkordnung in Gestalt eines dualen Systems, in dem die unerläßliche Grundversorgung der Bevölkerung von öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten geleistet wird, neben die dann weitere, private Rundfunkbetreiber treten, so ist dies vor dem Hintergrund dieses vorwiegend institutionellen Verständnisses der Rundfunkfreiheit[53] grundsätzlich nicht zu beanstanden. Es muß dann aber sichergestellt sein, daß die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten für die Gesamtheit der Bevölkerung Programme anbieten, die umfassend und in der vollen Breite des klassischen Rundfunkauftrags informieren und Meinungsvielfalt herstellen.[54] Das setzt voraus, daß die technischen, organisatorischen, personellen und vor allem finanziellen Voraussetzungen erfüllt sind, unter denen der öffentlich-rechtliche Rundfunk die Aufgabe der Grundversorgung effektiv erfüllen kann.[55]

Das Finanzierungsmittel, das den Besonderheiten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks am besten gerecht wird, bilden die Rundfunkgebühren, die im Unterschied zu den Werbeeinnahmen keine programm- und vielfaltsverengenden Zwänge entstehen lassen, wie sie im privaten Rundfunk zu beobachten sind.[56] Sie sind die wichtigste Einnahmequelle für die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten. In seinem Urteil vom 22. Februar 1994[57] arbeitete das Bundesverfassungsgericht nun Grundsätze heraus, die bei der Gestaltung der Rundfunkfinanzierung durch Rundfunkgebühren aus verfassungsrechtlicher Sicht zu beachten sind:

Die Rundfunkfreiheit verlangt nicht, daß die Rundfunkanstalten selbst über die Gebühren bestimmen. Die Länder[58] können die Festsetzung der Gebühren in eigenen Gesetzen oder auch in einem Staatsvertrag regeln, der anschließend in Landesrecht umgesetzt wird. Die verfassungsrechtlich gebotene Staatsferne des Rundfunks macht es allerdings erforderlich, daß für die eigentliche Entscheidung über die Gebührenhöhe ein Verfahren gewählt wird, daß jede Einflußnahme des Staates auf das Programm ausschließt (sogenannter prozeduraler Grundrechtsschutz). In Betracht kommt beispielsweise der Einsatz einer unabhängigen Kommission, die den von den Rundfunkanstalten angemeldeten finanziellen Bedarf überprüft und Empfehlungen ausspricht. Im Gesetz bzw. Staatsvertrag sind dann allerdings Aufgabe, Zusammensetzung und Verfahren der Kommission zu regeln und die Unabhängigkeit ihrer Mitglieder zu sichern. Ein verfassungsrechtlicher Entscheidungsvorbehalt zugunsten der Landesparlamente (etwa in ihrer Funktion als Landesgesetzgeber) besteht nicht, denn die Bestimmung der Gebührenhöhe ist keine politische sondern eine rechtlich gebundene Entscheidung und allein am finanziellen Bedarf der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten für die Aufgabe der Grundversorgung auszurichten.[59]

Bei der Ermittlung des finanziellen Bedarfs sind nach den Grundsätzen der Programmneutralität und der Programmakzessorietät die Programmentscheidungen so zugrundezulegen, wie sie die Rundfunkanstalten im Rahmen ihres verfassungsrechtlich vorgezeichneten und gesetzlich konkretisierten Versorgungsauftrags unter Berücksichtigung des Wirtschaftlichkeitsprinzips getroffen haben. Von ihnen darf sich der Staat nicht aufgrund eigener Vorstellungen von einem "angemessenen" Programm entfernen. Es ist ihm aber nicht verwehrt, bei seiner Entscheidung auch die Informationszugangs- und Vermögensinteressen des Publikums zu berücksichtigen.[60]

b) Eine weitere Entscheidung betraf die Zulässigkeit von Fernsehaufnahmen im Gerichtssaal. Ebenso wie die Pressefreiheit schützt auch die Rundfunkfreiheit den gesamten journalistischen Tätigkeitsbereich von der Beschaffung der Information bis zur Verbreitung von Nachricht und Meinung und damit auch die Anwesenheit von Kamerateams und den Einsatz von Aufnahme- und Übertragungsgeräten im Gerichtssaal. Die Gefahr, daß die Aufnahmen die Verhandlung stören oder das Recht von Prozeßteilnehmern am eigenen Bild verletzen könnten, führt nicht dazu, daß der Schutzbereich der Rundfunkfreiheit enger zu ziehen wäre als der der Pressefreiheit, sondern kann vielmehr lediglich weitergehende Beschränkungen des Grundrechts rechtfertigen. Während der Gerichtsverhandlung sind Ton- und Fernsehaufnahmen bereits nach der Entscheidung des Gesetzgebers unzulässig (vgl. § 169 Satz 2 Gerichtsverfassungsgesetz). Für den Zeitraum vor und nach der Verhandlung kann der Vorsitzende sie zum Zwecke der Aufrechterhaltung der Ordnung in der Sitzung untersagen (§ 176 Gerichtsverfassungsgesetz); die Beschränkung muß jedoch mit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip vereinbar sein. Das Verbot jeglicher Filmaufnahmen im Sitzungssaal für das gesamte Strafverfahren gegen die ehemals führenden DDR-Politiker Honecker, Mielke, Stoph, Keßler, Streletz und Albrecht erfüllte diese Voraussetzung nicht und verletzte die Rundfunkfreiheit.[61]

6) Gleichheit vor dem Gesetz und Schutz der Familie (Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 1 GG)

[1998] [2001]

Der besondere Schutz der Familie, zu dem Art. 6 Abs. 1 GG alle Staatsorgane verpflichtet, verwirklicht sich auch im Steuerrecht. Wird die Einkommensteuer für kinderlose Bürger und für Bürger mit Kindern nach einem einheitlichen Tarif berechnet, verstößt es gegen den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG), wenn von dem Einkommen der letzteren der Unterhaltsaufwand für die Kinder nicht wenigstens in Höhe des Existenzminimums steuerfrei bleibt.[62] Der Gleichheitssatz bildet den unmittelbaren Prüfungsmaßstab für die Verfassungsmäßigkeit der einschlägigen Vorschriften, seine Anwendung wird jedoch bestimmt von der Grundsatzentscheidung für den Schutz der Familie (Art. 6 Abs. 1 GG) und von dem Bekenntnis zur Würde des Menschen (Art. 1 Abs. 1 GG). Dieser Zusammenhang zeigt sich deutlich in der Argumentation des Bundesverfassungsgerichts in seinem Beschluß vom 26. Januar 1994 zur steuerlichen Berücksichtigung von Aufwendungen für Kinder[63]: Unterhaltsaufwendungen für Kinder sind grundsätzlich keine allgemeinen Kosten der Lebensführung, die bei der Berechnung der Steuer außer Betracht bleiben, sondern verringern die steuerliche Leistungsfähigkeit der Eltern. Der Staat, der die Würde des Menschen als höchsten Rechtswert anerkennt und der Ehe und Familie seinem besonderen Schutz unterstellt, darf Aufwendungen für Kinder und für private Bedürfnisbefriedigung nicht auf eine Stufe stellen. Er muß den Entschluß zur Gründung einer eigenen Familie achten und darf den Eltern nicht etwa die "Vermeidbarkeit" von Kindern entgegenhalten, wie es bei sonstigen Lebensführungskosten zulässig wäre.

Aufwendungen  für die Berufsausbildung der Kinder, insbesondere für die auswärtige Unterbringung, müssen nach dieser Entscheidung aber nicht im gleichen Maße berücksichtigt werden wie Unterhaltsleistungen, die der Sicherung des Existenzminimums dienen. Bei ihnen soll es sich nicht um Zuschüsse ohne wirtschaftlichen Gegenwert handeln, sondern um Investitionen der Eltern in die wirtschaftliche und gesellschaftliche Zukunft ihrer Kinder, die letztlich der ganzen Familie zugute kommen. Erlaubt das Gesetz nur die Berücksichtigung der Hälfte der üblicherweise anfallenden Kosten als Abzugsposten bei der Berechnung der zu versteuernden Einkünfte, so sieht das Bundesverfassungsgericht darin noch kein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG.[64] - Hier drängt sich der Einwand auf, daß bei den heutigen wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen damit zu rechnen ist, daß in den meisten Fällen die Eltern im Alter von ihrer selbstfinanzierten Altersversorgung und nicht von Unterhaltsleistungen ihrer Kinder leben werden, daß von ihren "Investitionen" in aller Regel also allein das jeweils unterstützte Kind profitieren wird. Das Bundesverfassungsgericht sah diesen Einwand, entkräftete ihn aber nicht. Es begnügte sich mit der nicht weiter begründeten Feststellung, dies ändere nichts daran, daß der Beitrag zur beruflichen Ausbildung der Kinder der Familie als ganzer zugute komme.

7)   Eigentum (Art. 14 GG)

[1994] [1995] [1996] [1999] [2000]

Die Entscheidungen zu Art. 14 GG betrafen vor allem Fragen des Mietrechts.[65] Mehrmals betonte das Bundesverfassungsgericht nachdrücklich die Bedeutung des Eigentumsgrundrechts bei der Auslegung und Anwendung der gesetzlichen Bestimmungen zur Eigenbedarfskündigung (Kündigung des Mietverhältnisses über Wohnraum durch den Vermieter und Eigentümer, der geltend macht, er benötige die Räume als Wohnung für sich, Familienangehörige oder Personen seines Hausstandes)[66]. Die Zivilgerichte müssen den grundrechtlich geschützten, in eigenverantwortlicher Lebensplanung gefaßten Selbstnutzungswunsch des Eigentümers achten. Bei der Überprüfung des geltend gemachten Eigenbedarfs haben sie grundsätzlich von dem auszugehen, was der Eigentümer für angemessen erachtet; die Grenze des Mißbrauchs ist erst dann überschritten, wenn er weit überhöhten Wohnbedarf geltend macht oder den Wohnbedarf in einer anderen - freien - eigenen Wohnung befriedigen kann.[67] Diese Grundsätze konkretisierte das Bundesverfassungsgericht jetzt an einigen Beispielen: Es darf dem Eigentümer nicht verwehrt werden, Wohn- und Arbeitsstätte im selben Haus zu haben und seine repräsentative Wohnung zu beziehen, um dort in wohnlicher Atmosphäre Geschäftspartner zu empfangen.[68] Es darf ihm nicht abverlangt werden, seine bereits vorhandene Puppensammlung außerhalb der Wohnung in Kisten zu lagern, statt sie in der Wohnung aufzustellen.[69] Die Zivilgerichte müssen den Wunsch gelten lassen, ein Au-pair-Mädchen aufzunehmen und in der eigenen Wohnung und nicht etwa in einer unbeheizten Dachkammer unterzubringen.[70] Sie müssen schließlich respektieren, wenn der Wohnbedarf für nur zwei Personen (die aber eine Familie gründen wollen) in der gekündigten 150 m² großen Mietwohnung und nicht in einer 100 m² großen Alternativwohnung befriedigt werden soll.[71]

8) Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG)

[1995] [2003]

Der Anspruch des Bürgers auf rechtliches Gehör vor Gericht ist kein Grundrecht, denn er wird nicht im Grundrechtsabschnitt (Art. 1 - 19 GG), sondern in Art. 103 Abs. 1 GG (im Abschnitt über die Rechtsprechung) verbürgt. Er ist eines der in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG abschließend aufgezählten grundrechtsgleichen Rechte, deren Verletzung ebenso wie die von Grundrechten mit der Verfassungsbeschwerde abgewehrt werden kann und die nach Ideengeschichte, Funktion und Struktur den Grundrechten gleichstehen. Die dogmatischen Fragen, die er aufwirft, sind bis in viele Einzelheiten geklärt, aber dennoch beschäftigt er das Bundesverfassungsgericht besonders häufig.[72] So auch 1994.[73]

a) In einem Fall war Art. 103 Abs. 1 GG verletzt, weil das Zivilgericht überspannte Anforderungen an den schlüssigen Sachvortrag der Klägerin stellte. Die Witwe eines Steuerberaters hatte Ansprüche aus dessen Tätigkeit in zwei parallelen Prozessen vor demselben Gericht geltend gemacht und nur in einem Verfahren ausdrücklich erklärt, daß sie Erbin war. Daraufhin hatte das Gericht die Klage in dem anderen Verfahren ohne jeglichen Hinweis mit der Begründung abgewiesen, die Aktivlegitimation der Klägerin sei nicht vorgetragen worden. Die Klägerin durfte hier, so das Bundesverfassungsgericht,[74] aufgrund der Gesamtumstände davon ausgehen, daß ihre Darlegungen den Anforderungen eines schlüssigen Sachvortrags genügten. Es ist nicht mit Art. 103 Abs. 1 GG vereinbar, wenn ein Gericht ohne vorherigen Hinweis Anforderungen an den Sachvortrag stellt oder auf rechtliche Gesichtspunkte abstellt, mit denen auch ein gewissenhafter und kundiger Prozeßbeteiligter nach dem bisherigen Prozeßverlauf nicht zu rechnen brauchte.

b) In einem anderen Fall verletzte das Zivilgericht den Anspruch auf rechtliches Gehör durch mangelhaftes Aktenstudium. Das Bundesverfassungsgericht stellte klar, daß Art. 103 Abs. 1 GG zwar nicht verlangt, daß die Richter die geltend gemachte Forderung aus dem Schriftsatz des Klägers und dessen Anlagen nach Grund und Höhe selbst zusammensuchen, daß sie sich aber darauf einlassen müssen, wenn der Kläger die Anlagen durchnumeriert und im Schriftsatz jeweils auf die entsprechende Anlage mit deren Nummer Bezug nimmt. Dies gilt selbstverständlich auch dann, wenn die Forderungsaufstellung kompliziert ist und ein größeres Aktenkonvolut erfordert. Die eingereichten Berechnungen müssen nachvollziehbar, aber nicht unbedingt übersichtlich sein. Die Richter müssen sich auch bei komplexen Forderungen, deren Darstellung durch eine Vielzahl gedanklicher und rechnerischer Schritte erschwert wird, die Mühe machen, den Vortrag der Beteiligten vollständig zur Kenntnis zu nehmen.[75]

c) In einem dritten Fall war Art. 103 Abs. 1 GG verletzt, weil der Strafverteidiger eines in Untersuchungshaft genommenen Beschuldigten vor dem gerichtlichen Haftprüfungstermin keine Einsicht in die Ermittlungsakten erhalten hatte.[76] Aus dem Recht auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren[77] und dem Recht auf rechtliches Gehör folgt, so das Bundesverfassungsgericht,[78] ein Anspruch des inhaftierten Beschuldigten auf Akteneinsicht seines Verteidigers schon im Ermittlungsverfahren (also schon vor Erhebung der Anklage), wenn und soweit die Akte Informationen enthält, die der Verteidiger benötigt, um auf die Entscheidung über die Fortsetzung der Untersuchungshaft effektiv einwirken zu können und deren mündliche Mitteilung nicht ausreichend wäre. In der Regel wird allerdings eine Teilakteneinsicht, die sich auf die für die Haftentscheidung relevanten Tatsachen begrenzt, diesen Anforderungen genügen.

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[1]  Im Rahmen der Tätigkeit des Bundesverfassungsgerichts ergingen bis einschließlich 1994 insgesamt 959 Entscheidungen über Richtervorlagen im Verfahren der konkreten Normenkontrolle und 80.767 Entscheidungen zu Verfassungsbeschwerden. Insgesamt waren 2,75 % der Verfassungsbeschwerden erfolgreich.

[2]  BVerfGE 88, 203 (= Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, zitiert nach Band und Seitenzahl, hier also: 88. Band, S. 203); dazu bereits Püttner, REDP/ERPL Vol. 7 (1995), Nr. 1, S. 131 (136 f.).

[3]  BVerfGE 89, 155; dazu bereits Püttner, REDP/ERPL Vol. 7 (1995), Nr. 1, S. 131 (137 f.).

[5]  Der Bericht ist veröffentlicht in Deutscher Bundestag, Referat für Öffentlichkeitsarbeit (Herausgeber), Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission gemäß Beschluß des Deutschen Bundestages - Drucksachen 12/1590, 12/1670 - und Beschluß des Bundesrates - Drucksache 741/91 (Beschluß) -, Bonn 1993.

[6]  Schon 1992 waren Vorschläge der Kommission zur Änderung des Grundgesetzes im Hinblick auf die Ratifizierung des Vertrages von Maastricht umgesetzt worden; siehe dazu bereits Püttner, REDP/ERPL Vol. 5 (1993), Nr. 2, S. 387 ff.

[7]  Diese Neuerung geht nicht auf eine Empfehlung der Gemeinsamen Verfassungskommission zurück.

[8]  BVerfGE 72, 155 (170).

[9]  Dazu bereits BVerfGE 79, 256.

[10]  BVerfGE 90, 263, betreffend § 1598  2. Halbsatz BGB. Nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit muß jeder Eingriff in ein Grundrecht geeignet und erforderlich sein, um einen erstrebten verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden Zweck - hier: die Schaffung von Rechtssicherheit - zu erreichen. Außerdem darf er den Betroffenen nicht unangemessen belasten (Übermaßverbot oder Voraussetzung der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne). Damit ist auch der Gesetzgeber bei Grundrechtseinschränkungen seinerseits Schranken unterworfen (sogenannten "Schranken-Schranken").

[11]  Bundesverfassungsgericht (= BVerfG), Neue Juristische Wochenschrift (= NJW) 1994, 1784.

[12]  Vgl. bereits BVerfGE 6, 32 (36 f.); 74, 129 (151); 75, 108 (154 f.); 80, 152.

[13]  BVerfGE 91, 335 (339 ff.).

[14]  Das Recht, die eigenen Rechtsverhältnisse entsprechend dem eigenen Willen selbst zu gestalten, ist Teil der allgemeinen Handlungsfreiheit, vgl. bereits BVerfGE 8, 274 (328); 72, 155 (170); 89, 214 (231).

[15]  BVerfG NJW 1994, 2749.

[16]  Siehe BVerfGE 89, 214 und dazu die Anmerkungen von Honsell, NJW 1994, 565 und Löwe, Zeitschrift für Wirtschaftsrecht und Insolvenzpraxis 1993, 1759.

[17]  Vgl. etwa BGHZ 106, 269; 107, 92; BGH NJW 1989, 1605; BGH NJW 1992, 896.

[18]  BVerfGE 89, 214 (231) im Anschluß an Erichsen, in: Isensee/Kirchhof (Herausgeber), Handbuch des Staatsrechts, Band VI, 1989, S. 1210.

[19]  BVerfG NJW 1994, 2749 (2750) im Anschluß an BVerfGE 89, 214 (232).

[20]  BVerfG NJW 1994, 2749 (2750) im Anschluß an BVerfGE 89, 214 (234).

[21]  Vgl. dazu Honsell, NJW 1994, 565 (566).

[22]  BVerfGE 90, 145 [zweite Quelle]; siehe dazu auch die abweichenden Meinungen der Richter Graßhof (BVerfGE 90, 199 ff.) und Sommer (BVerfGE 90, 212 ff.) sowie die Anmerkungen von Gusy, Juristenzeitung (= JZ) 1994, 863; Nelles/Velten, Neue Zeitschrift für Strafrecht 1994, 366 und Staechelin, Juristische Arbeitsblätter 1994, 245.

[23]  BVerfGE 90, 145 (171 f.).

[24]  Zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als einer Schranke für Grundrechtseingriffe siehe bereits oben Anmerkung 10.

[25]  BVerfGE 90, 145 (181 f.).

[26]  BVerfGE 90, 145 (182).

[27]  Das Bundesverfassungsgericht hält es im übrigen auch mit dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) vereinbar, daß das Umgangsverbot nur Cannabis-Produkte, nicht aber Alkohol betrifft. Der allgemeine Gleichheitssatz verbietet es, wesentlich Gleiches ungleiches und wesentlich Ungleiches gleich zu behandeln. Das Bundesverfassungsgericht sah hier indessen einen hinreichenden Differenzierungsgrund: Beim Alkohol dominiere eine Verwendung, die nicht zu Rauschzuständen führe, demgegenüber stehe beim Konsum von Cannabis typischerweise die Erzielung einer berauschenden Wirkung im Vordergrund. Außerdem könne der Gesetzgeber den Genuß von Alkohol wegen der herkömmlichen Konsumgewohnheiten in Deutschland und im europäischen Kulturkreis ohnehin nicht effektiv unterbinden (BVerfGE 90, 145, 197).

[28]  BVerfGE 90, 145 (184 ff.).

[29]  BVerfGE 90, 145 (189 ff.).

[30]  Sommer, BVerfGE 90, 212 (213).

[31]  BVerfGE 90, 145 (187).

[32]  Vgl. Sommer, BVerfGE 90, 212 (224 f.).

[33]  Ausführlich zur Meinungsfreiheit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts jetzt Grimm, NJW 1995, 1697.

[34]  BVerfG NJW 1994, 2943; siehe dazu auch die Anmerkung von Herdegen, NJW 1994, 2934.

[35]  Vgl. bereits BVerfGE 33, 1 (14 f.) und 61, 1 (7) und speziell zur Form der Kritik BVerfGE 54, 129 (139).

[36]  Vgl. bereits BVerfGE 43, 130 (136 f.); 82, 272 (280 f.); 85, 1 (14).

[37]  Ausführlich BVerfG NJW 1994, 2943 (2944).

[38]  BVerfGE 90, 241; siehe dazu auch die Anmerkung von Schulze-Fielitz, JZ 1994, 902.

[39]  Die Auschwitzlüge wird als Volksverhetzung, Beleidigung oder Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener (§§ 130, 185, 189 StGB) strafrechtlich verfolgt; dazu näher Beisel, NJW 1995, 997.

[40]  So bereits BVerfG NJW 1993, 916.

[41]  Vgl. bereits BVerfGE 61, 1 (9); 85, 1 (15 f.).

[42]  Vgl. BVerfGE 90, 241 (248 ff., 252 f.). Jede Leugnung der Vernichtung der jüdischen Bevölkerung im Dritten Reich ist zugleich ein Angriff auf Achtungsanspruch und Menschenwürde der heute lebenden jüdischen Mitbürger. Dieser vom Bundesgerichtshof hergestellte Begründungszusammenhang  (vgl. BGHZ 75, 160, 162 f.) ist, wie das Bundesverfassungsgericht klargestellt hat, verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Insofern unterscheidet sich die Leugnung der Judenverfolgung von der Leugnung der deutschen Kriegsschuld, die zwar historisch falsch ist, aber keine Rechtsgüter Dritter beeinträchtigt. In der Indexierung eines Buches als jugendgefährdend mit der Begründung, es enthalte zur Schuldfrage des Zweiten Weltkrieges eine falsche geschichtliche Darstellung, sah das Bundesverfassungsgericht in einem Beschluß vom 11. Januar 1994 (BVerfGE 90, 1) eine Verletzung des Grundrechts der Meinungsfreiheit.

[43]  BVerfG NJW 1995, 1016 (1017).

[44]  BVerfGE 90, 255 (259 ff.). Siehe in diesem Zusammenhang auch die scharfe Auseinandersetzung zwischen dem Bundesverfassungsgericht und dem Oberlandesgericht (= OLG) Bamberg zu den Voraussetzungen, unter denen das Anhalten von Gefangenenpost mit Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG vereinbar ist; dazu BVerfG NJW 1994, 1149; OLG Bamberg NJW 1994, 1972; BVerfG NJW 1995, 1477.

[45]  So bereits BVerfGE 27, 71 (81 f.).

[46]  Vgl. bereits BVerfGE 27, 71 (83 f.); 33, 52 (65).

[47]  BVerfGE 90, 27 (insbesondere S. 32 ff.); siehe dazu auch die Anmerkungen von Hoffmann-Riem/Eifert, JZ 1995, 154 und Schmittmann, Monatsschrift für Deutsches Recht (= MDR) 1994, 547. Die hier eingeleitete Rechtsprechung findet ihre Fortsetzung in BVerfG NJW 1994, 2143 und BVerfG NJW-Rechtsprechungs-Report Zivilrecht (= NJW-RR) 1994, 1232.

[48]  Wie in den oben behandelten Fällen der Inhaltskontrolle von Bürgschaften handelt es sich also um ein Problem der Drittwirkung der Grundrechte.

[49] Vgl. BVerfGE 90, 27 (33 f.).

[50]  Darin liegt auch keine mit Art. 3 Abs. 3 GG unvereinbare Ungleichbehandlung von inländischen und ausländischen Mietern, denn der inländische Mieter kann seine Heimatprogramme schließlich bereits über Kabel empfangen. Die Frage, wie das Interesse eines deutschen Mieters zu bewerten ist, der seine kulturelle Identität fortentwickeln möchte, hat das Bundesverfassungsgericht auch in seiner späteren Entscheidung (BVerfG NJW 1994, 2143) offen gelassen.

[51]  BVerfGE 90, 27 (35 ff.).

[53]  Kritisch zu diesem Grundverständnis der Rundfunkfreiheit Hain, Rundfunkfreiheit und Rundfunkordnung, 1993.

[54]  BVerfGE 73, 118 (157 f.); 74, 297 (325 f.); 83, 238 (298).

[55]  BVerfGE 83, 238; 87, 181; kritisch dazu Starck NJW 1992, 3257.

[56]  BVerfGE 87, 181 (199).

[57]  BVerfGE 90, 60; siehe auch die Anmerkungen von Goehrlich, Deutsches Verwaltungsblatt (= DVBl.) 1994, 579 und Oppermann, JZ 1994, 499.

[58]  Nach der Kompetenzordnung des Grundgesetzes sind die Länder auf dem Gebiet des Rundfunks zuständig.

[59]  BVerfGE 90, 60 (102 ff.).

[60]  BVerfGE 90, 60 (93 f.).

[61]  BVerfGE 91, 125 (134 ff.) = NJW 1995, 184 (185 f.) = JZ 1995, 295 (296 f.); siehe dazu auch die Anmerkung von Stürner, JZ 1995, 297.

[62]  So bereits BVerfGE 82, 60 (87 f.); jetzt auch BVerfGE 91, 93 (109).

[63]  BVerfGE 89, 346 (353).

[64]  Vgl. BVerfGE 89, 346 (354 ff.).

[65]  Siehe außer den hier aufgeführten Entscheidungen zur Eigenbedarfskündigung auch den Beschluß vom 22. November 1994 (BVerfGE 91, 294) zur Verfassungsmäßigkeit der befristeten Fortgeltung der Mietpreisbindung im Gebiet der früheren DDR.

[66]  Vgl. § 564b Abs. 2 Nr. 2 BGB [bis 2001 geltende Fassung]. Die Regelung in § 564b Abs. 1 BGB, nach der der Vermieter das Mietverhältnis nur bei berechtigtem Interesse kündigen kann, ist eine gesetzliche Konkretisierung der in Art. 14 Abs. 2 GG statuierten Sozialbindung des Eigentums.

[67]  Vgl. bereits BVerfGE 68, 361 (373 f.); 79, 292 (304 ff.).

[68]  BVerfG NJW 1994, 2605.

[69]  BVerfG NJW 1994, 994.

[70]  BVerfG NJW 1994, 994.

[71]  BVerfG NJW 1994, 995.

[72]  Vgl. dazu Knemeyer, in: Isensee/Kirchhof (Herausgeber), Handbuch des Staatsrechts, Band VI, 1989, § 155 Randnummer (= Rdnr.) 3 ff. und Schumann, NJW 1985, 1134.

[73]  Siehe neben den hier vorgestellten Entscheidungen auch BVerfGE 89, 381 (mit der Besonderheit, daß hier das Bundesverfassungsgericht den Rechtsfolgenausspruch auf die Feststellung der Verfassungswidrigkeit und die Aufhebung der für verfassungswidrig befundenen Gerichtsentscheidung beschränkt) sowie BVerfG NJW 1994, 2279 und BVerfG NJW-RR 1994, 700.

[74]  BVerfG NJW 1994, 1274.

[75]  BVerfG NJW 1994, 2683 f.

[76]  Die Strafprozeßordnung garantiert ein uneingeschränktes Akteneinsichtsrecht des Verteidigers erst nach Abschluß des Ermittlungsverfahrens. Zuvor kann die Akteneinsicht versagt werden, wenn sie den Untersuchungszweck gefährden könnte (§ 147 Abs. 2 StPO).

[77]  Dieses allgemeine Prozeßgrundrecht ergibt sich nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aus dem (im Sinne des materiellen Rechtsstaatsbegriffes verstandenen) Rechtsstaatsprinzip in Verbindung mit dem allgemeinen Freiheitsrecht (Art. 2 Abs. 1 GG), vgl. BVerfGE 57, 250 (275) mit weiteren Nachweisen.

[78]  BVerfG NJW 1994, 3219 (3220).

 

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